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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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Gehen.«
    »Okay.«
    Sie waren jetzt fast bei der Scheune. Das Tor war mit Plastikbändern beklebt.
    »Der Tatort ist versiegelt«, sagte Fred. »Reine Routine. Wegen der Spurensicherung.«
    Zehn Meter vor der Scheune blieben sie stehen. Die Frage vom Kirschbaum war noch immer nicht beantwortet. Hätte Schorsch es gewollt? Hinter dem Rücken der Frage lauerte eine zweite Frage: Waren sie seine Freunde gewesen? Igor blickte Fred von der Seite an. Wo war er eigentlich vor sechs Tagen gewesen, als die Tanks bei der Fabrik in die Luft gegangen waren? Etwas Hartes sprang in Freds Kehle hoch. Igor sah weg und gleich wieder hin.
    Fred spürte Igors Blick auf seinem Hals. Er wandte sich ab, schaute zu den zwei Verfolgern zurück. Noch einmal musste er schlucken, es ließ sich nicht verhindern. Am liebsten wollte er sein ganzes Gesicht an einem Baumstamm abschaben, auf dass eine neue Schicht hervortrete, die nicht so armselig war. Der Hals mit diesem Dings, die Pickel, die rote Nase. Er fragte sich, ob Igor denn gar nie so ein Gesicht bekäme. Wenn er schon keine Pickel bekommt, dachte Fred, soll er wenigstens seine Oberklugheit verlieren. Bestimmt wusste Igor längst alles. Bestimmt hatte Igor am letzten Schultag gesehen, wie er davongeschlichen war, Renate und diesem Ronnie nach. Bestimmt hatte sich Igor bereits in jener Sekunde vorgestellt, was weiter passieren würde. Und einmal mehr ins Schwarze getroffen.
    Ja, schon wahr, ich habe an diesem Nachmittag das Feuer bei den Gastanks gesehen, dachte Fred. Und ja, ich habe es brennen lassen. Keine Zeit gehabt, sonst hätte ich die beiden verloren. Er hatte später auch das offene Tor der Scheune gesehen, ebenso war ihm aufgefallen, dass keine Katze zu sehen gewesen war. Etwa zwei Dutzend davon lebten seit Jahren in der Scheune, und wenn man daran vorbeikam, sah man immer ein paar von ihnen, aber an diesem Nachmittag hatte er keine einzige erblickt. Er war bei der Scheune stehen geblieben, er hatte an Schorsch gedacht, mehr nicht, nur ein bisschen an Schorsch gedacht und sonst nichts Böses, aber er war nicht hineingegangen, um nachzusehen, weil er weitermusste, also hatte er sich wieder umgedreht, doch da waren Renate und Ronnie bereits weg gewesen.
    Er sah Igor zu, wie dieser näher an die Scheune trat. Dann schaute er wieder zu den beiden Männern hin. Kannte er sie? Der eine mit Brille und Bart, wie ein Professor, der andere hager, mit schwarzgrauem Haar und hoher Stirn. Der Hagere kam ihm bekannt vor. War das jener Mann, der manchmal auf dem Fahrrad quer über die Felder fuhr? Jedenfalls kein Polizist.
    »Da hat’s eine Schramme«, fispelte Igor.
    »Was?«
    »Schramme, hier am Tor. Sieht neu aus.«
    Fred sah nicht hin. Der Hagere hatte ein paar Schritte auf den Bach zu getan. Nun stand er an der Viehbrücke und lehnte sich über die Barre. Als ob er etwas sucht, dachte Fred. Er ist kein Polizist, aber er sucht etwas, im Bach unten. Der Hagere kletterte über die Barre und bückte sich. Er ging auf die Knie, streckte die Hand aus, legte sie auf einen spitzen Stein, der aus der Erde ragte. Lange blieb die Hand auf dem Stein liegen, und der Hagere senkte den Kopf. Sekunden vergingen, und er verharrte reglos.
    Nun hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Er hatte den Ort noch gewusst, auch an die Form des Steins hatte er sich erinnert, und seine Hand tastete sie langsam ab. Seit vielen Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Seine Haare stellten sich auf, er schluckte. Hier hatte er Schorsch zum ersten Mal gesehen. Er selbst hatte im Bachbett gelegen, neben sich das ramponierte Fahrrad, als plötzlich Schorschs Kopf über der Böschung aufgetaucht war. Nun sah er wieder das seltsame Grinsen von damals, wie von einem Schmerz auf Schorschs Gesicht gesät. Die Erinnerung breitet sich aus, dachte er. Sie will mehr Platz, aber ich lasse sie nicht. Er presste die Lippen aufeinander. Dann zog er die Hand vom Stein weg und erhob sich. Er kletterte über die Barre, sah zur Scheune hin. Dort vorne hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Diese Erinnerung war noch ganz frisch, wenige Tage alt war sie erst. Schorsch hatte nichts von sich hören lassen, also hatte er sich auf die Suche gemacht und war bei der Scheune gelandet. Er hatte sie zuvor noch nie betreten. Dunkelheit hatte ihn empfangen, dann dieser bestialische Geruch, und eine eiskalte Angst war ihm durch die Knochen gefahren. Aus dem Schummerlicht heraus hatte sich ein Bild aufgehellt, wie ein Polaroidfoto: ein Dosenberg,
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