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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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Dabei weiß ich genau, dass ich ihre Sachen nie bügle, und ebenso genau, dass sie das überhaupt nicht will. Und wenn sie nach Hause kommt, sage ich: »Na, wie war’s?«, obschon ich keine Ahnung habe, was sie ständig treibt.
    Eine Woche nach Edgars Schleiftag arbeitete ich mich durch den Dachboden und sortierte alten Kram aus. Ich hatte bereits massenhaft Christbaumschmuck, die Kinderski unserer Tochter und weitere Sachen zu einem Haufen zusammengeworfen, als ich auf Edgars alte Truhe stieß. Ich drückte an den Schnappschlössern herum, sie gingen nicht auf.
    »Edgar, hilfst du mir mit der Truhe?«
    Ich rüttelte an dem Deckel.
    »Edgar!«
    Ich packte die Schachteln mit dem alten Christbaumschmuck und stieg hinunter.
    »Edgar! Deine Truhe. Was machen wir mit der?«
    Im Garderobenspiegel kam ich mir staubbetupft entgegen. Schnell bog ich ins Bad ab und wusch mir das Gesicht.
    »Und sag mir nicht, du hängst an ihr. Du hast sie seit mindestens zehn Jahren nicht mehr angeschaut.«
    Ich suchte nach der Handcreme.
    »Eeedgar!«
    Ich sah ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa lag eine Schallplattenhülle. Fats Waller Solo, 1920–1929 . Edgar ließ nie Schallplattenhüllen auf dem Sofa liegen.
    »Edgar?«
    Mein Blick fiel aufs Fenster zum Garten. Hinten der Komposthaufen, daneben der Haselstrauch und der Schuppen. Ich dachte nichts. Ich schaute nur. Und sah. Kompost, Haselstrauch, Schuppen. Dann setzte ich mich in Bewegung. Durch die Haustür ins grelle Licht hinaus. Um den Flieder herum. Über die warmen Steinplatten Richtung Komposthaufen. Schließlich stand ich neben dem Schuppen.
    Erst nur Stille. Doch dann. Kleine dumpfe Lautflecken in der lauen Frühlingsluft. Ich bewegte meinen Kopf auf einen Spalt zwischen den Brettern zu. Sah nicht mehr als einen Schatten. Aber ich erkannte ihn. Er saß auf einer Gemüsekiste. Er schluchzte. Edgar. Mein Mann.
    Zehn Minuten später, ich stopfte die Fastnachtskostüme und Skianzüge in einen großen Müllsack, hörte ich Schritte hinter mir. Ich schaute nicht auf.
    »Ach, die alte Clownsmontur. Willst du die wirklich wegschmeißen?«
    »Wir brauchen sie nicht mehr.«
    »Dieser schöne Stoff. Schade. Aber wenn du meinst.«
    Noch immer schaute ich nicht auf.
    »Deine Truhe«, sagte ich. »Wir werfen sie weg.«
    »Na gut, von mir aus.«
    Ich band den Müllsack zu und sagte: »Die bringe ich zum Container.«
    »Ja ja, mach nur.«
    Den schweren Sack über der Schulter, rannte ich, so schnell ich konnte.
    Wochen vergingen. Edgar schaffte es immer, genau dann zu verschwinden, wenn ich nicht darauf achtete. Noch zwei- oder dreimal schlich ich zum Schuppen. Ich brauchte die Bestätigung, ich bekam sie.
    Unsere Tochter blieb derweil tagelang weg. Als ich sie einmal erwischte, sagte ich: »Aha, bist auch wieder mal da. Wie geht’s Patrick?«
    »Er heißt nicht Patrick.«
    »Oh. Und wie …«
    »Pascal.«
    »Pascal?«
    Sie wandte sich ab, ich sah in ihren Augen diese Genugtuung aufblitzen, sekundenkurz.
    »Kommt er mal zu Besuch, dein Pascal?«
    Die Zimmertür schnappte zu.
    Meine Tochter weiß, dass ich nicht dumm bin. Aber sie weiß auch, dass ich es nicht besser kann mit ihr. Doch was war mit Edgar? Wie, was, warum, herrje, ich verstand es einfach nicht. Mein Mann will selten sprechen, ich meine wirklich sprechen, also über das, was ihn beschäftigt. Er sagt: »Man muss großzügig sein mit den Widerfahrnissen des Lebens. Es kommt sowieso immer anders, als man will.« Damit hat sich’s für ihn. Und ich glaube ihm. Denn er ist tatsächlich großzügig mit den Widerfahrnissen des Lebens.
    Was passierte mit uns in diesen Tagen? Wir sind, was weiß ich, wir sind, ach Gott. Ganz gewöhnliche Menschen. Wir wollen nur ein bisschen zufrieden sein. Mehr nicht.
    Es war am letzten Schultag vor den Sommerferien, als ich mit einer Freundin zum Biomarkt fuhr, um herauszufinden, ob es bereits Erdbeersetzlinge gab. Wir wühlten uns durch den riesigen Markt, tranken Kaffee, plauderten uns fest. Als ich zurückkam, saß Edgar mit dem noch namenlosen Nachbarn, der kürzlich zugezogen war, im Wohnzimmer. Auf Edgars Schoß lag eine Schallplattenhülle, Cannonball Adderley, At the Lighthouse, aus den Lautsprechern erklang ein Saxofon. Der Nachbar nickte mir zu, ohne seine Rede zu unterbrechen. Es ging offenbar um einen Unfall, um Schall und Rauch und viel Trara. Der Mann fuchtelte mit den Armen und quetschte meinen spindeldürren Edgar fast vom Sofa. Edgar lächelte gequält. Ich stellte mich ans
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