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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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Die Sache ging grausam schief, ich haute ab und verließ Italien für immer.«
    Als Schorsch das Wort »entführt« ausgesprochen hatte, war in Freds Halsröhre der Ansatz eines Adamsapfels pfeilschnell hochgehüpft. Jetzt pendelte er in kleinen Sprüngen hinauf und hinunter.
    »Also nochmal«, fuhr Schorsch fort, »durchkommen muss jeder irgendwie, das ist logisch. Mit Betteln kommt ihr nicht weit, aber schämen müsst ihr euch nicht dafür. Klar?«
    »Ja. Klar.«
    »Und wenn’s nicht reicht für das Trikot, geht ihr Kerls mal in Freysingers Schuppen und nehmt euch eine Säge oder ein paar Schraubzwingen. Der Freysinger braucht die nicht mehr. Und dann geht ihr zu Heinz, ihr wisst schon, und bietet sie ihm an. Er liebt altes Werkzeug. Ein Zehner springt da locker raus. Klar?«
    »Ja. Klar.«
    Und schon zockelte Schorsch ab, auf zur Scheune, zu seinen Katzen. Eine leicht verbogene Gestalt mitten im leeren Dorfnachmittag, fremd wie ein Berber.
    Hoch oben in der grün gesprenkelten Markise zwitscherte ein Vogel. Die drei Freunde reckten ihre Köpfe, und es war, als ob die mächtige Baumkrone ihr Denken für einen Augenblick vereinte: Gemeinsam sahen sie zwei korsische Jungbanditen auf einem Motorrad, tief in der Kurve liegend, im Hintergrund Karstfelsen und Sturzbach, sie sahen einen nadelgestreiften Geschäftsmann in einem Kellergewölbe, die randlose Brille schief auf der Nase, hinter ihm eine Reihe von zerknautschten Köpfen in Damenstrümpfen, sie sahen Schorsch, wie er eben noch vor ihnen gestanden hatte, seine Wildnis-Augen und die ganze Einsamkeit darin, und dann sahen sie Renate in ihrem grünen Top, das bei einem bestimmten Licht halb durchsichtig wurde, und sie dachten an alles, was Renate vor ihnen verborgen hielt, und das Leben, das einen großen Bogen um sie machte, und all diese Gedanken wirbelten in ihren Köpfen durcheinander, bis sie plötzlich nichts mehr sahen, nur noch einen gigantischen Windstoß spürten, der alles wegfegte, die Gegenwart und ihre Gesetze, die Wut und den Gram, und in ihren Bäuchen stieg eine Leichtigkeit hoch wie eine Luftblase, und sie schauten sich wortlos an. Drei kirschrote Köpfe, mit plötzlicher Sprachlosigkeit geschlagen.
    Frau Becher und ihr vierbeiniger Knäuel tauchten an der Treppe auf, eine Elster tippelte um Freysingers Opel herum, auf dem Trottoir erschien Renates Mutter. Hurtig ging sie vorbei, und auch diesmal bemerkte sie die Jungen nicht. Die Elster flatterte davon, Frau Becher und Hund verloren sich im nahen Horizont.
    Manu hob den Kopf. Am Straßenrand sah er das Leopardenfoulard von Renates Mutter liegen. Ein Windstoß stupste es an.
    »Die Katzen«, sagte er.
    »Hä?«, antwortete Fred.
    »Wie viele sind es? Zehn, zwanzig? Und er füttert sie alle. Jeden Tag.«
    »Und?«, sagte Fred.
    »Wo bekommt er das Futter? Er hat kein Geld.«
    »Jemand deckt ihn ein.«
    »Wer?«, fragte Manu.
    Fred formte sein Gesicht zu einem Fragezeichen. Igor pustete einen Löwenzahn in hundert winzige Schirme und blickte zum Himmel hoch.
    »Hat jemand mal versucht, das herauszufinden?«, fragte Manu.
    Schweigen.
    Über ihnen noch immer das Rauschen der Blätter und an der Treppe schon wieder Frau Becher mit Hund und auf der Straße Leute, die immerzu kamen und gingen. Die drei begannen, sich still zu knuffen. Niemand sah sie.

Bredouille
    Eine Viertelstunde lang war er unsichtbar gewesen. Nun sah ich ihn vom Garten hereinkommen. Er trat in die Küche, öffnete die zweitoberste Schublade, lud ihren Inhalt geräuschvoll auf den Tisch, setzte sich hin. Ich schaute ihm zu und verstand die Welt nicht mehr. Wie hatte er, also warum, ich meine, was war da draußen geschehen? Die Fragen stolperten mir über das Halszäpfchen, ich musste hüsteln.
    Edgar hob den Kopf: »Hm?«
    »Du, also«, sagte ich, »warum? Nein. Nichts.«
    Ich wandte mich ab und nahm eine alte Brigitte vom Telefontisch. Mein Blick rutschte haltlos von einem Artikel zum nächsten: »Rohkost ist hip«, »Sind Sie zu selbstkritisch?«, »Fatburning: die besten Übungen«. Noch immer irrten dieselben Fragen durch meinen Kopf: Wie, also warum, ich meine was? Ich blickte auf. Das Tranchiermesser in seiner Hand schimmerte seidig. Es war Schleiftag, mein Mann erledigt das zwei Mal im Jahr. Bis jedes Messer im Haus blank geschliffen ist, dauert es Stunden. Aber wie konnte er in aller Ruhe dort auf dem Küchenschemel sitzen, als ob in dieser Viertelstunde nichts gewesen wäre?
    Wir sind stille Leute. Ich ziehe Gemüse und
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