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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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und ein Papa, gefesselt und geknebelt auf dem Wohnzimmerperser, der Sohn auf der Innenveranda thronend, seine bellende Stimme: »Auf die Osterinsel, alle beide! Für neunundneunzig Jahre, so will es das Urteil. Einspruch wird abgelehnt!«
    Diese Eltern, dachte Igor. Man sah sie fast nie. Auch seine eigene Mutter ließ sich im Dorf kaum blicken, aber das hatte einen guten Grund. Ihre beiden Körperhälften konnten sich nicht mehr einigen, was zu tun war, und ihre Stimme brachte die erstaunlichsten Töne, aber keine Wörter mehr hervor. Seit dem Hirnschlag lebte sie auf ihrer ganz privaten Osterinsel.
    Vor ihm lag ein Käfer im Gras und strampelte unsichtbare Muster in die Luft. Igor bot seinen Finger dar, der Käfer nahm dankbar an und eilte davon. Igor blickte auf. Frau Becher und Hund erschienen erneut im Hauseingang. Sie fletschte das Gesicht, der Hund gähnte. Fred war mittlerweile verstummt, Manu pulte an einem Klumpen Erde herum. Bald, dachte Igor, werden wir hier festgewachsen und Teil von Freysingers Garten sein. Und niemand würde es bemerken.
    Doch dann, erst sachte wie vom Wind angehoben, danach entschlossen, hob sich Freds Hand, und ihr Besitzer zischelte: »Pst. Nicht hinschauen. Die Mutter.«
    Zwei Köpfe wie Wetterfahnen in einer sanften Brise.
    »Nicht hinschauen, hab ich gesagt!«
    Es war Renates Mutter. Oben auf dem Trottoir. Sie nestelte an dem blauen Leopardenfoulard auf ihren Schultern und schaute nervös umher, aber die drei Jungen auf Freysingers Wiese bemerkte sie nicht. Dann verschwand sie hinter einer Hausecke. Fred drehte sich auf den Rücken und sah in die Baumkrone hoch.
    »Ich sag’s euch. Bald ist es so weit.«
    »Was denn?«, fragte Igor.
    »Eines Tages! Nicht mehr lange.«
    »Wie, wo, was, Mann?«
    »Vergiss es.«
    Igor und Manu schauten sich stumm an. Fred kraulte sich im Schritt.
    »Na gut, kann ich euch vertrauen?«
    Wieder Griff in den Schritt, Räuspern, Rotz hochziehen. Igor und Manu nickten.
    »Ich werde sie entführen.«
    »Wen?«, fragte Igor.
    »Wen wohl?«
    Igor und Manu schauten sich abermals an.
    »Wa-warum?«, piepste Manu.
    »Weil …« Fred schaute um sich, Manu rückte näher an ihn heran. »Weil endlich etwas passieren muss.«
    »Warum?«
    »Weil …« Fred senkte die Stimme, auch Igor rückte näher heran. »Weil es so nicht weitergeht. Mit Nichts-Passieren.«
    Langes Schweigen.
    »Oder sieht sie etwa nicht wie ein Entführungsopfer aus?«
    Fred und sein Gewalttheater. Tobende Scharmützel, Karambolagen und maskierte Henker rangelten ständig um die besten Plätze in seinem Hirn. Und doch schien es, als ob dieser Anschlag auf die Moral der Eltern eine neue Grenze überschritten hätte. Fred hatte eine Waffe gefunden, mit der er Angst und Schrecken verbreiten konnte. Jetzt fuchtelte er probeweise damit herum. Igor und Manu hielten die Luft an.
    »Ein Versteck hab ich schon«, raunte Fred, »Zeitungen habe ich auch gesammelt.«
    »Wa-warum Zeitungen?«, fragte Manu.
    »Für die Lösegeldforderung, du Idiot. Buchstaben ausschneiden.«
    »Ihre Eltern haben kein Geld«, wandte Igor ein.
    »Die betteln das schon zusammen.«
    Eine Stimme in Freds Rücken sagte: »Wer bettelt was zusammen?«
    Sie blickten hoch.
    »Oh, Schorsch, hallo«, sagte Igor, »wir betteln, ich meine, wir reden von den Trikots fürs Fußballturnier. Wir brauchen, äh, ja, wir brauchen noch ein bisschen Geld dafür. Fred am meisten, weil er …«
    »Schon gut, Jungs.« Schorsch zwinkerte. »Und überhaupt, lasst euch gesagt sein: Betteln ist so übel nicht, sofern man die richtigen Gründe dafür hat. Ich habe vor vielen Jahren einen Sommer lang gebettelt. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht weit gekommen damit. Also habe ich umgesattelt auf das Ausräumen von Autos auf Parkplätzen. Derjenige am Bavellapass war der ergiebigste. Im Sommer Dutzende von Ausflüglern, Holländer, Schweizer, Deutsche und so weiter. Was schaut ihr so? Man muss eben über die Runden kommen. Später habe ich mit einem Freund Motorräder geklaut. Wir haben sie umgespritzt, die Seriennummer weggefeilt und auf der anderen Seite der Insel verkauft. Nun ja. Korsika ist klein, viel liegt da nicht drin. Später, das war in den Siebzigern, als ich längst ins Piemont ausgewandert war, gehörte ich zu einer Bande, die Tankstellen überfiel. Das war damals ein politisches Handwerk, müsst ihr wissen. Wir haben vor allem an unsere Bäuche gedacht und nicht schlecht von dem Handwerk gelebt. Eines Tages haben wir einen Manager entführt.
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