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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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experimentiere mit Rosen, Edgar pflegt seine Musiksammlung. Mehr brauchen wir nicht. Sogar das Auto haben wir letztes Jahr verkauft. Ich hatte schon lange darauf gedrängt, aber Edgar wollte nicht: »Manchmal braucht man es doch, und dann ist man froh drum. Weißt du noch, als wir bei diesen Jetzlers eingeladen waren?« Bis er letztes Jahr von allein darauf kam: »Heute habe ich zwei Stunden in die Stadt gebraucht. Hinter jeder Windschutzscheibe ein Wutgesicht. Ich mache das nicht mehr mit.« Ich freute mich stumm über meinen Sieg. Wir sind überzeugt, dass der Mensch mit wenig zufrieden sein kann. Ich arbeite schon länger Teilzeit, Edgar seit ein paar Jahren ebenfalls. An schönen Tagen bleibt er zu Hause und macht etwas in der Werkstatt oder liest. Nur was den Umgang mit den Menschen angeht, übertreibt Edgar es mit der Genügsamkeit. Wenn ich andeute, dass ein paar Freundschaften ihm ganz guttun würden, antwortet er: »Sag mir warum! Ich bin für jeden da, der Hilfe benötigt, aber ich brauche dieses ständige Verbündetsein nicht. Es macht mich ungeduldig, verstehst du? Es nervt mich.« Edgar kann in solchen Momenten richtig brummig werden, und wenn mich dieser Blick trifft, ich weiß nicht, ich glaube, dann würde er mich gerne weit, weit weg haben.
    Ich legte die Brigitte zurück auf den Telefontisch und setzte zu einem entschlossenen Schritt an. In diesem Moment kam unsere Tochter herein, und bereits wurde ich von neuen Fragen bedrängt: Wie ist das, woher soll ich, warum, wozu? Mein Herz pochte, ich suchte im Gedächtnis nach einem passenden Satz, ich sagte: »So, wie war’s?«
    »War was?«
    »Na, die Probe.«
    »Welche Probe?«
    »Na, die vom Theater, mit den Kostümen. Oder ging es um Requisiten?«
    »Keines von beiden.«
    »Oh. Worum denn?«
    »Gar nichts. Wie kommst du auf Probe?«
    »Ich weiß nicht. Hast du nicht heute Morgen gesagt …«
    »Ich habe nichts gesagt.«
    »Wirklich?«
    »Ich sage am Morgen nie etwas.«
    »Ach. Ja. Du hast recht.«
    Sie ging in ihr Zimmer hoch.
    Unsere Tochter sagt nicht nur am Morgen nichts. Den ganzen Tag ist kein Wort aus ihrem Mund zu hören. Und deshalb passieren mir diese, wie soll ich sagen, Ausrutscher. Ich mache es, ja, nein, natürlich mache ich es nicht absichtlich, es ist keineswegs so, dass ich versuche, Tricks anzuwenden, um meine Tochter zum Reden zu bringen. Ich dachte an diesem Tag und in dieser Sekunde tatsächlich, meine Tochter hätte eine Probe gehabt. Schüler haben doch ständig irgendeine Probe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Die Leute kommen schnell mit allerlei Theorien: Vermeidungsstrategie, Ich-Abwehr, Sublimierung. Vielleicht haben sie recht. Wobei, ist Sublimierung nicht etwas anderes? Ich meine, wie nennt man das, was die Leute meinen? Beziehungsweise was ich meine? Auf jeden Fall bilde ich mir Sachen ein, die meine Tochter gesagt haben soll. Wie soll ich darauf, also was soll ich überhaupt? Tun? Oder nicht tun?
    Zwischen Telefontisch, Küche und Treppe stand ich und wusste nicht wohin. Und was ich vorgehabt hatte, bevor dieser Schabernack anfing. Wie, warum, was und überhaupt? Mein Herz im Hals, die Hände im Haar, alles zerzaust. Ich stieg die Treppe hoch, klopfte an die Tür.
    »Was!«
    »Ich gehe einkaufen«, sagte ich.
    »Und?«
    »Wolltest du nicht …? Etwas wolltest du doch.«
    »Nein.«
    »Wirklich?«
    »Nein.«
    »Hör mal, darf ich reinkommen?«
    »Was gibt’s denn?«
    Ich stieß die Tür auf. Meine Tochter stand mit offener Hose vor dem Kleiderschrank.
    »Ich wollte nur sagen, wegen. Ach, du gehst weg?«
    Sie zog die Hose aus und schmiss sie auf das Bett.
    »Sag mal, diese halb durchsichtige Unterhose. Ich bin ja nicht prüde, aber ist das bequem?«
    »Mutter, was gibt’s?«
    »Ich frage dich, wohin du gehst.«
    »Ich gehe zu Patrick.«
    »Aha. Patrick.«
    Sie zog sich eine neue Hose an, die noch enger zu sein schien als die andere. Ich schaute weg und dachte: Gibt es denn niemanden, der mir hilft? Das schaffe ich nicht alleine, mit dieser Tochter! Ich brauche Hilfe, bitte, kann mir jemand helfen?
    »Ich möchte, dass du heute Abend mit uns isst.«
    »Von mir aus.«
    Sie zog ihr T-Shirt aus. Ich sah einen BH , den ich noch nie gesehen hatte. Ich schaute wieder weg.
    »Um sieben. Es gibt Fleisch.«
    Hinter mir schloss sich die Tür. Ich ging hinunter. Küche, Treppe und Telefontisch umringten mich. Und jetzt? Meine Hand griff nach der Handtasche, mein Mund entließ eine Reihe von Tönen: »Ich gehe dann
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