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Canard Saigon (German Edition)

Canard Saigon (German Edition)

Titel: Canard Saigon (German Edition)
Autoren: Harald Friesenhahn
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sich die Gedanken wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell. Hatte seine letzte Stunde geschlagen? Hatte ihn jemand beobachtet? Suchten die Russen ihren Kameraden? Würden die jetzt Fragen stellen, ihn mitnehmen oder gleich erschießen? War Mutter in Gefahr?
    „Papiera!“
    Die Stimme klang zwar nicht weniger barsch und bedrohlich, aber Karl schöpfte einen Funken Hoffnung. Wenn sie seine Dokumente sehen wollten, war er vermutlich einer russischen Streife in die Arme gelaufen. Aus Erfahrung wusste er, dass die Russen immer zu zweit auf Streife gingen. Im nächsten Moment spürte er, wie sich die Mündung eines Gewehrlaufs in seinen Rücken bohrte. Karl hoffte inständig, dass sich keine Blutspuren an seiner Kleidung befanden. Er hatte doppeltes Glück. Im Schein der Taschenlampe waren keine auffälligen Flecken an seiner Kleidung erkennbar. Und er hatte seine gesamte Beute seiner Mutter gegeben. Betont langsam öffnete Karl seinen Mantel und zog ihn halb auseinander. Er gewährte dem Soldaten mit der Taschenlampe einen langen kontrollierenden Blick auf die Innenseiten des Mantels und seinen Körper. Plötzlich war der Druck des Gewehrlaufs in seinem Rücken weg. Im nächsten Moment spürte Karl, wie ihn starke Männerhände von oben bis unten abklopften, um nach versteckten Waffen zu suchen. Karl kannte dieses Ritual, denn er war schon einige Male kontrolliert worden. Mit der rechten Hand holte er seine Papiere heraus und übergab sie dem Russen vor ihm.
    „Was machen?“, fragte der Soldat in gebrochenem Deutsch, während er den Lichtkegel von Karls Gesicht auf seine Dokumente wandern ließ.
    Karl war hochgradig angespannt. Er hatte das Gefühl, als ob sich alles in ihm verkrampfen würde. Sein Mund war ausgetrocknet, seine Kehle vor Angst zusammengeschnürt.
    „Gehe Hause“, antwortete er mit rauer Stimme.
    „Hause? Wo Hause?“
    Karl deutete mit der Hand zum Stiegenhaus.
    „Hier Hause“, presste er über die Lippen. Jetzt stand sein Schicksal wieder auf Messers Schneide. Wenn die beiden Russen seine Wohnung sehen wollten, war er so gut wie tot. Das viele Blut in der Küche würde ihm sein Leben kosten. Kalter Angstschweiß kroch aus allen Poren des sonst so mutigen 17-Jährigen.
    „Name, Nummera“, verlangte der Rotarmist, während er die Dokumente genau studierte.
    „Karl Wagner, Kleine Sperlgasse“, antwortete Karl, und das Herz pochte ihm bis zum Hals.
    „Charl Wager?“, wiederholte der Russe.
    Karl nickte. Der Soldat betrachtete das Foto im Ausweis, leuchtete Karl ins Gesicht und kontrollierte nochmals das Foto. „Charl Wager“, sagte er wieder, aber mehr zu sich selbst, als wolle er sich den Namen besonders gut einprägen.
    „Chlein Sperlgass“, las er und nickte bestätigend. Er reichte Karl seine Papiere. „Du Hause, cheute kalt, brrr.“ Er lachte mit tiefer, lauter Stimme. „Dawei, dawei, du Hause“, rief er Karl zu und lachte wieder.
    Karl drehte sich um und eilte zum Stiegenaufgang.
    „Charl Wager, du Hause“, hörte er den Soldaten rufen.
    Die Russen lachten, und er vernahm noch einige Wortfetzen, bevor sie die Straße erreichten.
    Karl sank auf den untersten Stufen der Treppe nieder. Er zitterte, die Beine versagten ihm ihren Dienst. Er atmete, nein, er keuchte rasend, sein Herz pochte wild. Heiße Wellen durchfuhren seinen Körper und gleichzeitig stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn. Er war erschöpft. Einen Augenblick lang war er der Ohnmacht nahe. Er wünschte sich nur noch eins: Schlaf. Hier im dunklen Stiegenhaus, auf der Treppe sitzend, wollte er schlafen. Und alle Probleme vergessen. Einige Minuten der Ruhe gönnte er sich, bevor er seine Gedanken ordnete und versuchte, sich körperlich in den Griff zu bekommen. Welch unglaubliches Glück er eben gehabt hatte, war ihm sofort klar, aber die gesamte Situation zu erfassen, dauerte länger. Karl spulte die Ereignisse des Tages vor seinem geistigen Auge ab, dann traf er eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die sein weiteres Leben in völlig andere Bahnen lenken sollte.
    Er wusste nun, was zu tun war, und handelte fast mechanisch. Erst schlich er in die Wohnung, um eine Kerze zu holen. Er zündete sie an und suchte sorgfältig den gesamten Weg, den er mit dem Toten im Haus zurückgelegt hatte, nach verräterischen Spuren ab. Außer einigen kleinen Blutflecken, die er sofort wegwischte, deutete nichts auf die Tragödie hin, die sich hier abgespielt hatte. Unbemerkt zog er sich anschließend in die Wohnung zurück und
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