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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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weigert. Aeschylus erhöht noch die Gestalt des Helden, begabt ihn mit hellsichtiger Vernunft («kein Unglück wird über mich kommen, das ich nicht vorausgesehen), lässt ihn seinen Götterhass laut hinausschreien, taucht ihn in ‹ein stürmisches Meer unseliger Verzweiflung› und setzt ihn am Schluss allen Blitzen und Wettern aus: «O seht die Ungerechtigkeit, die ich erdulde.»
    Man kann also nicht behaupten, dass die Alten die metaphysische Revolte nicht gekannt hätten. Sie haben, lange vor Satan, ein schmerzenreiches und edles Bild des Rebellen aufgestellt und uns den größten Mythos des Geistes im Aufstand gegeben. Das unerschöpfliche Genie der Griechen, das den Mythen der Zustimmung und Bescheidenheit vor Götterwillen so viel zugestand, gab dennoch dem Aufstand sein Vorbild. Unstreitig leben heute noch einige prometheische Züge in der Geschichte der Revolte, in der wir leben: der Kampf gegen den Tod («ich habe die Menschen von der Besessenheit des Tods befreit»), der Messianismus («ich habe ihnen die blinde Hoffnung eingepflanzt»), die Menschenliebe («Feind des Zeus … weil er die Menschen zu sehr geliebt hat»).
    Aber man kann nicht vergessen, dass der letzte Teil von Aeschylus’ Trilogie ‹Prometheus der Feuerbringer› die Herrschaft des begnadigten Rebellen ankündigt. Die Griechen treiben nichts auf die Spitze, auch in der äußersten Kühnheit bleiben sie jenem Maß treu, das sie vergöttlicht hatten. Ihr Empörer steht nicht gegen die ganze Schöpfung auf, sondern gegen Zeus, der nur einer ist unter den Göttern und dessen Tage gezählt sind. Prometheus selbst ist ein Halbgott. Es handelt sich um eine private Abrechnung, umeinen Besitzstreit, und nicht um einen allumfassenden Kampf des Guten mit dem Bösen.
    Das deshalb, weil die Alten, wenn sie auch ans Schicksal glaubten, zuvorderst an die Natur glaubten, an der sie teilhatten. Sich gegen die Natur auflehnen heißt sich gegen sich selbst auflehnen, mit dem Kopf gegen die Wand. Die einzige folgerichtige Auflehnung ist dann der Selbstmord. Das griechische Schicksal ist eine blinde Macht, die man erleidet wie eine Naturgewalt. Der Gipfel der Maßlosigkeit für einen Griechen ist, das Meer mit Ruten zu peitschen; Wahnsinn der Barbaren. Der Grieche stellt zweifelsohne die Maßlosigkeit dar, da sie eine Tatsache ist, aber er weist ihr einen Platz zu und damit eine Grenze. Achilles’ Herausforderung nach dem Tod des Patroklus, die Verfluchungen der tragischen Helden, die sie gegen ihr Schicksal ausstoßen, ziehen nicht die völlige Verdammung nach sich. Oedipus weiß, dass er nicht unschuldig ist. Er ist schuldig wider Willen, auch er hat teil am Schicksal. Er beklagt sich, spricht jedoch nie die nicht gutzumachenden Worte aus. Selbst Antigone revoltiert nur im Namen der Tradition, damit ihre Brüder im Grab die Ruhe finden und die Riten befolgt werden. In gewisser Hinsicht handelt es sich bei ihr um eine reaktionäre Revolte. Das griechische Denken mit seinem doppelten Gesicht lässt fast immer im Gegengesang, nach den verzweifeltsten Melodien, Oedipus’ ewiges Wort folgen, der blind und elend erkennt, dass alles gut ist. Das Ja findet das Gleichgewicht zum Nein. Selbst wenn Platon in Kallikles den vulgären Typus des Nietzschedenkers vorwegnimmt, selbst wenn dieser ausruft: «Wenn aber, mein’ ich, ein Mann ersteht, der die genügende natürliche Kraft dazu hat … dann entflieht er, tritt unser Buchstabenwerk, unsere Hypnose, Suggestion und die sämtlichen naturwidrigen Gesetze und Bräuche mit Füßen, unser bisheriger Sklave tritt auf einmal vor uns hin und erweist sichals unser Herr 7 – auch wenn er das Gesetz verwirft, spricht er von der Natur.
    Denn die metaphysische Revolte setzt ein vereinfachtes Bild der Schöpfung voraus, das die Griechen nicht haben konnten. Für sie gab es nicht auf der einen Seite die Götter und auf der andern die Menschen, sondern Übergänge von den einen zu den andern. Die Vorstellung der Unschuld im Gegensatz zur Schuld, einer Geschichte, die sich ganz im Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen erfüllt, war ihnen fremd. In ihrer Welt gibt es mehr Verfehlungen als Verbrechen, das einzige entscheidende Verbrechen war die Maßlosigkeit. In der völlig geschichtlichen Welt, die die unsere zu sein droht, gibt es keine Verfehlung mehr, gibt es im Gegenteil nur Verbrechen, deren Erstes das Maß ist. So erklärt sich die sonderbare Mischung von Wildheit und Nachsicht, die man im griechischen Mythos findet.
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