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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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der Revolte sich nur schwer in einer Gesellschaft ausdrückt, deren Ungleichheiten sehr groß sind (Kastenherrschaft bei den Hindus) oder deren Gleichheit im Gegenteil vollkommen ist (gewisse primitive Gesellschaften). In der Gesellschaft ist der Geist der Revolte nur in den Gruppen möglich, wo eine theoretische Gleichheit große faktische Ungleichheiten verdeckt. Das Problem der Revolte hat demnach nur innerhalb unserer westlichen Gesellschaft einenSinn. Man wäre also versucht zu sagen, es stehe im Zusammenhang mit der Entwicklung des Individualismus, wenn die vorhergehenden Bemerkungen uns vor dieser Schlussfolgerung nicht gewarnt hätten.
    Was man auf der Ebene der offenbaren Tatsache Schelers Bemerkung entnehmen kann, ist, dass in unserer Gesellschaft die Theorie der politischen Freiheit im Menschen den Begriff des Menschen erhöht hat und die Anwendung ebendieser Freiheit in gleichem Maße eine Unbefriedigung auslöste. Die Freiheit hat nicht in gleichem Grade zugenommen wie das Bewusstsein, das der Mensch von ihr erlangt hat. Aus dieser Beobachtung kann man nur eines ableiten: Die Revolte ist die Tat des unterrichteten Menschen, der das Bewusstsein seiner Rechte besitzt. Aber nichts erlaubt uns zu sagen, es handle sich nur um die Rechte des Individuums. Im Gegenteil scheint es, als handle es sich aufgrund der obenerwähnten Solidarität um ein mehr und mehr erweitertes Bewusstsein, welches das Menschengeschlecht im Laufe seiner Abenteuer von sich selbst gewinnt. In Wirklichkeit stellt sich der Untertan des Inka oder der Paria das Problem der Revolte nicht, denn es wurde für sie durch eine Tradition gelöst, bevor sie es sich noch stellen konnten. Die Antwort darauf war das Heilige. Wenn man in der Welt des Heiligen das Problem der Revolte nicht antrifft, so deshalb, weil man in Tat und Wahrheit dort gar keine wirkliche Problematik findet, da alle Antworten mit einem einzigen Mal erteilt sind. Die Metaphysik ist durch den Mythos ersetzt. Es gibt keine Fragen mehr, es gibt nur noch Antworten und ewige Kommentare, die dann freilich metaphysisch sein können. Doch bevor der Mensch in das Heilige eintritt, und damit er dort überhaupt eintritt, oder sobald er es verlässt, und damit er es überhaupt verlässt, ist er ganz Frage und Revolte. Der Mensch in der Revolte steht vor oder nach dem Heiligen, hingegeben derForderung nach einer menschlichen Ordnung, in der alle Antworten menschlich, d. h. vernunftgemäß formuliert sind. Von dem Augenblick an ist jede Frage, jedes Wort Revolte, während in der Welt des Heiligen jedes Wort ein Gnadenakt ist. So wäre es möglich zu zeigen, dass es für den Geist des Menschen nur zwei mögliche Welten geben kann: diejenige des Heiligen (oder um in der Sprache des Christentums zu sprechen: der Gnade) 6 oder diejenige der Revolte. Verschwindet die eine, kommt das dem Antritt der andern gleich, obwohl Letztere mit bestürzenden Formen zutage treten kann. Auch hier stehen wir vor dem Alles oder Nichts. Die Aktualität des Problems der Revolte ist dadurch allein begründet, dass ganze Gesellschaften sich heute vom Heiligen distanzieren wollen. Wir leben in einer entheiligten Geschichte. Der Mensch erfüllt sich freilich nicht ganz im Aufstand. Aber durch ihren unausgesetzten Streit zwingt uns heute die Geschichte zu sagen, dass die Revolte eine der wesentlichen Dimensionen des Menschen ist. Sie ist unsere historische Wirklichkeit. Wenn wir vor der Wirklichkeit nicht fliehen wollen, müssen wir in ihr unsere Werte finden. Kann man fern des Heiligen und seiner absoluten Werte eine Verhaltensregel finden, ist die Frage, die die Revolte stellt.
    Wir haben schon den unbestimmten Wert verzeichnen können, der an jener Grenze entsteht, wo die Revolte beheimatet ist. Wir müssen uns nun fragen, ob dieser Wert sich in den zeitgenössischen Formen des Denkens und Handelns der Revolte findet, und wenn dies der Fall ist, müssen wir seinen Inhalt präzisieren. Doch halten wir das eine fest vor allem:Die Grundlage dieses Wertes ist die Revolte selbst. Die Solidarität der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte, und sie findet ihrerseits die Rechtfertigung nur in dieser Komplicenschaft. Wir sind also zu sagen berechtigt, dass jede Revolte, die diese Solidarität leugnet oder zerstört, sofort den Namen Revolte verliert und in Wirklichkeit zusammenfällt mit einer Zustimmung zum Mord. Gleichermaßen gewinnt diese Solidarität außerhalb des Heiligen nur auf der Ebene der Revolte Leben.
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