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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Das wirkliche Drama des revoltierenden Denkens ist damit angedeutet. Um zu sein, muss der Mensch revoltieren, doch muss seine Revolte die Grenze wahren, die sie in sich selbst findet und wo die Menschen, wenn sie sich zusammenschließen, zu sein beginnen. Das Denken der Revolte kann also nicht auf das Gedächtnis verzichten, sie ist eine unaufhörliche Spannung. Wenn wir sie in ihren Werken und ihren Taten verfolgen, haben wir jedes Mal festzustellen, ob sie ihrem ursprünglichen Adel treu bleibt oder ob sie ihn im Gegenteil, aus Ermattung und Geistesverwirrung, vergisst in einem Rausch von Tyrannei oder Knechtschaft.
    Zunächst jedoch sehen wir hier den ersten Fortschritt, den der Geist der Revolte auf ein Denken ausübt, das anfänglich von der Absurdheit und der scheinbaren Sterilität der Welt durchdrungen war. In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird ihm bewusst, kollektiver Natur zu sein; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, dass er diese Befremdung mit allen Menschen teilt und dass die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest. In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das ‹Cogito› aufdem Gebiet des Denkens: Sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den Einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir.

Die metaphysische Revolte
    Die metaphysische Revolte ist die Bewegung, mit der ein Mensch sich gegen seine Lebensbedingung und die ganze Schöpfung auflehnt. Sie ist metaphysisch, weil sie die Ziele des Menschen und der Schöpfung bestreitet. Der Sklave protestiert gegen das Leben, das ihm innerhalb seines Standes bereitet ist, der metaphysisch Revoltierende gegen das Leben, das ihm als Mensch bereitet ist. Der aufständische Sklave behauptet, dass es in ihm etwas gäbe, welches mitnichten die Behandlung seines Herrn erdulde; der metaphysisch Revoltierende erklärt sich von der Schöpfung betrogen. Für den einen wie für den andern handelt es sich nicht nur um eine Verneinung schlechthin. In beiden Fällen wird in der Tat ein Werturteil abgegeben, in dessen Namen der Revoltierende die Billigung seiner Lebensbedingung verweigert.
    Der Sklave, der sich gegen seinen Herrn erhebt, denkt nicht daran, diesen Herrn als Menschen zu leugnen. Er leugnet ihn als Herrn. Er bestreitet sein Recht, ihn, den Sklaven, als Forderung zu leugnen. Der Herr fällt gerade in dem Maß, wie er diese eine Forderung nicht beantwortet. Wenn die Menschen sich nicht auf einen gemeinsamen Wert beziehen können, der von allen in jedem anerkannt wird, ist der Mensch dem Menschen unverständlich. Der Rebell fordert, dass dieser Wert klar und deutlich in ihm anerkannt werde, da er vermutet oder weiß, dass ohne dieses Prinzip Unordnung und Verbrechen auf der Welt herrschen würden. Die Bewegung der Revolte erscheint bei ihm als eine Forderung nach Klarheit und Einheit. Selbst der primitivste Aufstand drückt paradoxerweise das Streben nach einer Ordnung aus.
    Zeile für Zeile passt diese Beschreibung auf den metaphysisch Revoltierenden. Er erhebt sich in einer zertrümmerten Welt, um ihre Einheit zu fordern. Er stellt das Prinzip derGerechtigkeit, die in ihm ist, dem Prinzip der Ungerechtigkeit gegenüber, das er in der Welt wirken sieht. Am Anfang will er also nichts anderes als diesen Gegensatz lösen: das einheitliche Reich der Gerechtigkeit errichten, wenn er es kann, oder dasjenige der Ungerechtigkeit, wenn man ihn zum Äußersten treibt. Vorläufig deckt er den Widerspruch auf. Indem sie protestiert gegen das, was der Tod an Unvollendetem und das Böse an Zerrissenem ins Dasein bringen, ist die Revolte die begründete Forderung einer glücklichen Einheit gegen das Leid des Lebens und Sterbens. Wenn die allgemein gewordene Todesstrafe die Lebenslage der Menschen bestimmt, so ist die Revolte in einem Sinn ihre Zeitgenossin. Zu gleicher Zeit, da der Revoltierende sich gegen seine Sterblichkeit verwahrt, weigert er sich, die Macht anzuerkennen, die ihn darin leben lässt. Wer metaphysisch revoltiert, ist also nicht unweigerlich ein Gottesleugner, wie man glauben könnte, aber er ist notwendigerweise ein Gotteslästerer.
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