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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Grundstück wohnten, völlig. Meine Brüder beklagten sich, weil sie nicht mehr genügend Würmer zum Angeln fanden und das Graben in der harten, vertrockneten Erde so mühsam war. Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, ob man Regenwürmer dressieren kann. Man kann, allen Ernstes. Die Lösung schien mir naheliegend: Regenwürmer kommen immer hervor, wenn es regnet, also ließ ich es für sie regnen, das war ja nicht schwer. Mehrmals am Tag trug ich einen Blecheimer zu einer schattigen Stelle im fünf Morgen großen Dickicht und goss das Wasser aus, immer an derselben Stelle. Nach vier Tagen musste ich nur mit dem Eimer auftauchen, schon kamen die Regenwürmer an die Oberfläche gekrochen, angelockt von meinen Schritten und dem Versprechen von Wasser. Ich sammelte sie ein und verkaufte sie Lamar für einen Penny das Dutzend. Lamar drängte mich unablässig, ich solle ihm verraten, wo ich sie gefunden hatte, doch ich schwieg. Der Einzige, dem ich meine Methode verriet, war Harry, mein Lieblingsbruder, vor dem ich nichts (na gut, fast nichts) geheimhalten konnte.
    »Callie Vee«, sagte er eines Tages, »ich hab was für dich.« Er ging an seinen Schreibtisch und zog ein kleines, in rotes Leder eingebundenes Notizbuch hervor, in das die Worte SOUVENIR AUS AUSTIN eingeprägt waren.
    »Schau mal«, sagte er, »ich habe es nie benutzt. Du könntest es nehmen, um deine wissenschaftlichen Beobachtungen aufzuschreiben. Du bist doch auf bestem Wege, mal ein richtiger Naturforscher zu werden.«
    Was genau machte ein Naturforscher wohl? Ich war mir nicht sicher, beschloss aber, den restlichen Sommer lang einer zu sein. Wenn es nichts weiter bedeutete, als alles aufzuschreiben, was man um sich herum beobachtete – das war kein Problem. Und nachdem ich jetzt etwas hatte, das nur mir gehörte und worin ich festhalten konnte, was mir auffiel, sah ich auf einmal Dinge, die ich nie zuvor bemerkt hatte.
    Die ersten Beobachtungen, die ich mir notierte, bezogen sich auf die Hunde. Wegen der Hitze lagen sie unbeweglich auf der Erde, wie tot sahen sie aus. Selbst wenn meine jüngeren Brüder versuchten, sie mit Stöckchen aus ihrer Langeweile herauszureißen, hoben sie nicht einmal den Kopf. Sie standen gerade einmal so lange auf, wie sie brauchten, um Wasser aus dem Trog zu schlürfen, dann ließen sie sich wieder in ihre flachen Erdmulden fallen, aus denen jedes Mal Staubwolken aufstiegen. Ajax, Vaters preisgekrönter Hühnerhund, hätte sich nicht einmal aufscheuchen lassen, wenn jemand einen Fuß von seiner Schnauze entfernt einen Schuss aus einem Gewehr abgefeuert hätte. Er lag da mit weit offenem Maul, sodass ich seine Zähne zählen konnte. Auf die Weise entdeckte ich, dass der Gaumen eines Hundes nach hinten zu, in Richtung Speiseröhre, tief zerfurcht ist. Der Grund dafür ist sicher, dass erbeutete Tiere in ihrem Abwehrkampf nur in eine Richtung befördert werden sollen – in der Richtung, die auch unser Abendessen nimmt. Das schrieb ich in mein Notizbuch.
    Auch beobachtete ich, dass der Gesichtsausdruck bei Hunden weitgehend durch die Bewegung der Augenbrauen bestimmt wird. Warum haben Hunde Augenbrauen?, schrieb ich auf. Wozu brauchen Hunde Augenbrauen?
    Ich fragte Harry, doch er wusste es nicht. »Geh und frag Großvater«, sagte er. »Der weiß solche Dinge.«
    Doch das mochte ich nicht. Der alte Mann hatte selbst so wilde, zottige Augenbrauen, die mich an einen Drachen erinnerten, und außerdem hatte seine Respekt einflößende Gestalt mich schon als kleines Mädchen davon abgehalten, ihm auf den Schoß zu klettern. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass er je mit mir gesprochen hätte, ich war mir nicht einmal sicher, ob er meinen Namen wusste.
    Als Nächstes wandte ich meine Aufmerksamkeit den Vögeln zu. Aus irgendeinem Grund hatten wir in dem Jahr auffallend viele Rotkardinäle auf unserem Grundstück.
    Ich freute mich, als Harry zu mir sagte, wir hätten es zu einer schönen Menge gebracht, so als hätten wir irgendeinen Anteil daran, so als hätten wir nach harter Arbeit ihre fröhlich leuchtenden Körper geerntet und wie Weihnachtsbaumschmuck in die Zweige der Bäume entlang unserer Einfahrt verteilt. Doch weil sie so viele waren und ihre übliche Nahrung aus Samen und Beeren wegen der Dürre immer weniger wurde, stritten die Männchen erbittert über den Besitz jedes einzelnen Zürgelbaums. Im Unterholz fand ich ein verstümmeltes totes Männchen; das war ein erschreckender und trauriger Anblick. Dann eines
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