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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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noch nie gegeben. Harry und ich durften sogar zwei Wochen lang unsere Klavierstunden ausfallen lassen. Das war auch gut so, denn Harrys verschwitzte Hände hinterließen eine feuchte Spur auf den Tasten, die er für das Menuett in G-Dur anschlug, und was immer Mutter oder SanJuanna versuchten, sie schafften es nicht, das Elfenbein wieder zum Schimmern zu bringen. Außerdem war unsere Musiklehrerin, Miss Brown, schon uralt, und ihr klappriges Pferd musste ihren Einspänner drei Meilen von Prairie Lea bis zu uns hinaus ziehen. Vermutlich würden beide auf dem Weg zusammenbrechen und müssten eingeschläfert werden. Eigentlich gar keine so schlechte Idee.
    Als Vater hörte, dass unsere Klavierstunden erst einmal ausfielen, sagte er: »Umso besser. Ein Junge braucht ein Klavier genau so dringend wie eine Schlange einen Reifrock.«
    Mutter war da völlig anderer Meinung. Sie wollte aus dem siebzehnjährigen Harry, ihrem Ältesten, einen richtigen Gentleman machen. Ihr Plan war es, Harry an die Universität im fünfzig Meilen entfernten Austin zu schicken, sobald er achtzehn war. In der Zeitung hatte gestanden, dass fünfhundert Studenten an der Universität eingeschrieben seien, darunter siebzehn streng behütete junge Damen, die die Schule der Freien Künste besuchten, wo sie Musik, Englisch oder Latein studieren konnten. Vater hatte andere Pläne mit Harry: Er sollte Geschäftsmann werden und eines Tages sein Unternehmen weiterführen, die Cotton Gin, die Anlage zur Entkörnung der Baumwolle, sowie die Pekannuss-Plantagen. Außerdem sollte er so wie sein Vater Mitglied bei den Freimaurern werden. Was mich anging, so fand Vater Klavierunterricht anscheinend passend, soweit er überhaupt einen Gedanken darauf verschwendete.
    Ende Juni berichtete der Fentress Indicator , dass vor dem Gebäude des Zeitungsverlages eine Temperatur von 41 Grad Celsius gemessen worden sei, und zwar in der prallen Sonne. Wie hoch die Temperatur im Schatten war, wurde nicht berichtet. Wieso eigentlich nicht, fragte ich mich, schließlich würde kein vernünftiger Mensch sich länger als eine Sekunde in der Sonne aufhalten, höchstens auf dem Weg von einem schattigen Ort zum nächsten – einem Baum oder einer Scheune oder einem Zugpferd. Meiner Meinung nach wäre es für die Bewohner unserer Stadt sehr viel nützlicher, die Temperaturen im Schatten zu kennen. Mit viel Mühe verfasste ich einen Leserbrief an die Zeitung, und zu meinem großen Erstaunen wurde er in der Woche darauf abgedruckt. Und zum noch größeren Erstaunen meiner Familie begann die Zeitung damit, auch die Temperatur im Schatten zu veröffentlichen. Wenn wir lasen, dass es im Schatten nur 37 Grad waren, war uns allen gleich nicht mehr ganz so heiß.
    Sowohl im Haus als auch draußen gab es eine plötzliche Zunahme an Insektenaktivität. Grashüpfer stiegen in Schwärmen vor den Hufen der Pferde auf. Glühwürmchen erschienen in so großer Anzahl, dass niemand sich erinnern konnte, je in einem Sommer ein größeres Schauspiel erlebt zu haben. Abend für Abend versammelten meine Brüder und ich uns auf der Veranda auf der Vorderseite des Hauses und veranstalteten einen Wettbewerb, wer von uns das erste Aufflackern entdeckte. Das war eine aufregende Sache, und zu gewinnen war eine große Ehre, vor allem, nachdem Mutter einen Streifen blauer Seide aus ihrem Nähkorb genommen und einen schönen Orden mit langen Bändern daraus gemacht hatte. Zwischen einem Kopfschmerzanfall und dem nächsten stickte sie mit goldenem Faden die Worte Großer Glühwürmchenpreis darauf. Es war ein sehr eleganter, sehr begehrter Preis. Der Gewinner durfte ihn bis zum folgenden Abend behalten.
    In der Küche erlebten wir eine nie zuvor gekannte Invasion von Ameisen. In militärischer Aufstellung marschierten sie durch winzige Spalten an Fußleisten und Fenstern und steuerten direkt das Waschbecken an. In ihrer verzweifelten Suche nach Wasser ließen sie sich durch nichts aufhalten. Viola erklärte ihnen den Krieg, doch sie unterlag. Wir sahen die Glühwürmchen als einen Segen an und die Ameisen als eine Plage, doch zum ersten Mal fragte ich mich, wieso man so eine Unterscheidung machte. Ich fand, Viola sollte aufgeben und die Ameisen in Ruhe lassen, doch als ich einmal feststellte, dass der schwarze Pfeffer im Eiersalat doch kein Pfeffer war, änderte ich meine Meinung.
    Während gewisse Insekten uns überrannten, verschwanden andere, wie zum Beispiel die Regenwürmer, die sonst immer auf unserem
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