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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Morgens kam ein Vogelweibchen auf die Veranda geflogen und setzte sich auf die Rückenlehne des Korbstuhls neben mir. Ich saß stocksteif da. Ich hätte es mit den Fingern berühren können, ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen. Aus dem blass aprikosenfarbenen Schnabel hing ein winziger grau-brauner Klumpen. Er sah aus wie ein Mäuschen, gerade mal fingerhutgroß, halb oder auch schon ganz tot.
    Als ich beim Essen davon erzählte, sagte Vater: »Calpurnia, Kardinalvögel fressen keine Mäuse. Sie ernähren sich nur von Pflanzen. Sam Houston, bitte reiche mir die Kartoffeln.«
    »Ja, Sir, ich sag ja nur«, antwortete ich lahm. Aber ich war wütend auf mich selbst, weil ich nicht auf dem beharrt hatte, was ich doch mit eigenen Augen gesehen hatte. Den Gedanken, dass die Kardinalvögel vom Wetter zu so unnatürlichem Verhalten getrieben wurden, fand ich schrecklich. Der nächste Schritt wäre dann Kannibalismus. Bevor ich an jenem Abend schlafen ging, nahm ich mir eine Blechdose Hafer aus dem Stall und streute ihn in der Einfahrt aus. Dann schrieb ich in mein Notizbuch: Wie viele Rote Kardinäle werden wir wohl nächstes Jahr haben, wenn sie nicht genug Nahrung finden? Nicht vergessen: Zählen!
    Als Nächstes schrieb ich in mein Notizbuch, dass wir in jenem Sommer zwei sehr verschiedene Arten von Grashüpfern hatten. Einmal waren da die, die wir immer hatten – flink, smaragdfarben, mit vielen kleinen schwarzen Flecken verziert. Dann gab es aber auch doppelt so große, leuchtend gelbe, schwerfällige Tiere, unter denen die Gräser sich neigten, wenn die Insekten mit ihren großen Wachsflügeln darauf landeten. Noch nie hatte ich solche Grashüpfer gesehen. Ich wollte wissen, woher diese seltsamen gelben Exemplare kamen, und befragte jeden im Haus (außer Großvater), aber niemand konnte mir etwas dazu sagen. Niemand war auch nur im Geringsten interessiert.
    Als ich mir nicht anders zu helfen wusste, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und ging zu Großvater ins Laboratorium. Ich schob den Sackleinenvorhang beiseite, der als Tür diente, und blieb zitternd auf der Schwelle stehen. Großvater sah erstaunt von seinem Arbeitstisch auf, an dem er eine eklig aussehende braune Flüssigkeit in verschiedene Becher und Retorten goss. Er lud mich nicht ein, näher zu kommen. Stotternd brachte ich mein Grashüpferproblem vor, während er mich anstarrte, als hätte er Mühe, sich zu erinnern, woher er mich kennen könnte.
    »Oh«, sagte er dann mit sanfter Stimme, »ich vermute, dass ein schlaues kleines Ding wie du allein dahinterkommen kann. Komm wieder und berichte mir, wenn du es weißt.« Damit wandte er sich ab und machte sich Notizen in sein großes Buch.
    Das war sie also schon, meine Audienz beim Drachen. Herausgekommen war dabei wohl nichts. Zwar hatte er nicht gerade Feuer gespuckt, als ich hereinkam, aber geholfen hatte er mir auch kein bisschen. Vielleicht hätte Großvater mich mehr beachtet, wenn ich Harry gedrängt hätte mitzukommen. Vielleicht war er ärgerlich, dass ich ihn bei seiner Arbeit gestört hatte, auch wenn er durchaus freundlich gesprochen hatte. Ich wusste, woran er arbeitete. Aus irgendeinem Grund hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Pekannüsse zu Whiskey zu destillieren. Seine Überlegung war vermutlich, dass, wenn es möglich war, aus gewöhnlichem Mais und der schlichten Kartoffel gute Spirituosen herzustellen, warum dann nicht aus der vornehmen Pekannuss? Und Pekannüsse, die gab es bei uns weiß Gott im Überfluss – sechzig Morgen.
    Ich ging zurück in mein Zimmer und dachte weiter über das Grashüpferrätsel nach. Auf meiner Frisierkommode stand ein Glas mit einem der kleinen grünen Grashüpfer, und ich sah ihn gründlich an in der Hoffnung, so würde mir vielleicht eine Eingebung kommen. Es war mir nicht möglich gewesen, einen von den großen gelben zu fangen, dabei waren sie doch viel langsamer.
    »Wieso seid ihr so unterschiedlich?«, fragte ich, doch der Grashüpfer weigerte sich, mir zu antworten.
    Am nächsten Morgen wurde ich wie gewohnt von lautem Geraschel in der Wand neben meinem Bett geweckt. Das war das Opossum, das zur üblichen Zeit in seinen Bau zurückkehrte. Bald darauf hörte ich das laute Anschlagen der Gewichtschnüre, als SanJuanna die Schiebefenster im Salon unter meinem Zimmer öffnete. Ich setzte mich in meinem hohen Messingbett auf, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass die fetten gelben Grashüpfer eine völlig neue Spezies sein mussten, eine ganz
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