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Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc
Autoren: Admin
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Folgerungen sich daraus ergaben. Er hatte einen Selbstmordversuch hinter sich; sie gingen zweifellos davon aus, daß er bereit war, es noch einmal zu versuchen. Deckers Adresse war 35

    in seiner Brieftasche. Der Doktor war wahrscheinlich bereits unterwegs, um seinen irregeleiteten Patienten zu holen und der Polizei zu übergeben. Und wenn er erst einmal in den Händen des Gesetzes war, würde er Midian nie zu sehen bekommen.
    »Du hast gesagt, du hättest Tabletten!« schrie Narcisse.
    »Sie wurden mir weggenommen!«
    Narcisse riß Boone die Jacke aus der Hand und fing an, daran zu reißen.
    »Wo?« schrie er »Wo?«
    Seine Gesichtszüge verzerrten sich erneut, als ihm klar wurde, daß er keinen Schuß zur Beruhigung bekommen würde. Er ließ die Jacke fallen und wich von Boone zu-rück, seine Tränen flossen wieder, rannen aber am Gesicht hinab und trafen auf ein breites Grinsen.
    »Ich weiß, was du machst«, sagte er und deutete auf Boone. Gelächter und Schluchzen hielten sich die Waage.
    »Midian hat dich geschickt. Um herauszufinden, ob ich würdig bin. Du bist gekommen, um festzustellen, ob ich einer von euch bin oder nicht!«
    Er ließ Boone keine Möglichkeit zu widersprechen, sein Hochgefühl steigerte sich zu Hysterie.
    »Ich sitze hier und bete, daß jemand kommt; flehe; und du bist die ganze Zeit da und siehst zu, wie ich mich selbst vollscheiße. Wie ich mich vollscheiße!«
    Er lachte heftig. Dann todernst:
    »Ich habe nie Zweifel gehabt. Nicht einmal. Ich habe immer gewußt, daß jemand kommen würde. Aber ich hatte ein Gesicht erwartet, das ich kenne. Vielleicht Mar-vin. Ich hätte wissen müssen, daß sie jemand Neuen schicken würden. Ist vernünftig. Und du hast es gesehen, richtig? Hast es gehört. Ich schäme mich nicht. Sie haben mich nie soweit gebracht, daß ich mich geschämt habe.
    Frag wen du willst. Sie haben es versucht. Immer wieder.

    36

    Sie sind in meinen verdammten Kopf gekommen und haben versucht mich auseinanderzunehmen, haben versucht, die Wilden aus mir herauszuholen. Aber ich habe durchgehalten. Ich wußte, du würdest früher oder später kommen, und ich wollte bereit sein. Darum trage ich die hier.«
    Er hielt die Daumen vors Gesicht. »Damit ich es dir zeigen kann.«
    Er drehte den Kopf nach rechts und links.
    »Willst du es sehen?« sagte er.
    Er brauchte keine Antwort. Seine Hände waren bereits an beiden Seiten des Gesichts, die Klauen berührten die Haut am Ansatz eines jeden Ohrs. Boone sah zu, Worte des Einhalts oder des Appellierens waren überflüssig.
    Dies war ein Augenblick, den Narcisse zahllose Male geübt hatte; er würde ihn sich nicht nehmen lassen. Kein Laut war zu hören, als die rasiermesserscharfen Klauen die Haut aufzuschlitzen begannen, aber Blut floß sofort seinen Hals und die Arme hinab. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, er wurde nur noch intensiver: eine Maske, in der komischen Muse und Tragik vereint waren.
    Dann zog er die Rasierklingenklauen mit an den Seiten des Gesichts gespreizten Fingern kontinuierlich am Um-riß des Kiefers entlang. Er hatte die Präzision eines Chirur-gen. Die Wunden öffneten sich mit vollkommener Symmetrie, bis sich die beiden Klauen am Kinn trafen.
    Erst dann ließ er eine Hand an die Seite sinken, und Blut troff von Klaue und Handgelenk, die andere bewegte sich über das Gesicht und suchte den Hautlappen, den sein Vorgehen geöffnet hatte.
    »Möchtest du es sehen?« sagte er wieder.
    Boone murmelte:
    »Nicht.«
    Es blieb ungehört. Narcisse löste die Hautmaske mit 37

    einem heftigen Aufwärtsruck vom Muskel darunter und begann zu ziehen, wobei er sein wahres Gesicht bloßlegte.
    Boone hörte hinter sich jemanden schreien. Die Tür war aufgegangen, und eine Schwester stand auf der Schwelle.
    Er sah aus dem Augenwinkel: ihr Gesicht, weißer als die Uniform, ihren weit offenen Mund; und hinter ihr den Flur, und die Freiheit. Aber er konnte es nicht über sich bringen, den Blick von Narcisse abzuwenden; nicht solange das Blut in der Luft zwischen ihnen die Offenbarung verbarg.
    Er wollte das geheime Gesicht des Mannes sehen: den Wilden unter der Maske, der ihn für Midians Zuflucht qualifizierte.
    Der rote Regen löste sich auf.
    Die Luft klärte sich.
    Jetzt sah er ein wenig von dem Gesicht, erkannte aber den Sinn in seiner komplexen Beschaffenheit nicht. War dies die Anatomie einer Bestie, die sich ihm knotig und verzerrt darbot, oder durch Selbstverstümmelung schmerzverzerrtes menschliches Gewebe? Nur
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