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Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc
Autoren: Admin
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gestellt.
    Midian rief.
    Er war so sehr in seinem Elend gefangen, er hatte gar nicht gemerkt, daß er das Zimmer jetzt mit jemandem teilte, bis er die krächzende Stimme hörte.
    »Midian...«
    Zuerst dachte er, es wäre eine andere Stimme aus der Vergangenheit, wie die von Lori. Aber als sie wieder sprach, geschah das nicht an seiner Schulter, wie es bei ihr gewesen war, sondern von jenseits des Zimmers. Er machte die Augen auf, Blut von einer Schnittwunde an der Schläfe verklebte das linke Lid, und sah den Sprechen-den. Offenbar ein weiterer Verwundeter der Nacht, der zum Verarzten hierhergebracht und dann sich selbst überlassen worden war, bis etwas Flickwerk gemacht werden konnte. Er saß in der am weitesten von der Tür des Zimmers entfernten Ecke, auf die sein wilder Blick gerichtet war, als würde jeden Moment sein Erlöser hereinkommen. Es war buchstäblich unmöglich, sein Alter oder sein wahres Aussehen zu schätzen: Schmutz und getrocknetes Blut verbargen beides. Ich muß ebenso schlimm oder schlimmer aussehen, dachte Boone. Es kümmerte ihn nicht weiter; die Leute starrten ihn immer an. In ihrem derzeitigen Zustand waren er und der Mann in der Ecke die Leute, vor denen andere die Straßenseite wechselten, um ihnen nicht zu begegnen.
    Aber wo er mit seinen Jeans, den Halbstiefeln und dem schwarzen T-Shirt nur ein weiterer Niemand war, hatte 30

    der andere Mann Spuren an sich, die ihn abhoben. Der lange Mantel, den er trug, war von mönchischer Schlicht-heit; das graue Haar war straff auf der Kopfhaut zurückgekämmt und hing als geflochtener Pferdeschwanz bis zur Mitte seines Rückens. Er trug Schmuck um den Hals, der von dem hohen Kragen fast verdeckt wurde, und an den Daumen zwei künstliche Nägel, die wie zu Klauen ge-formtes Silber aussahen.
    Und schließlich war da der Name, den der Mann wie -
    der aussprach. »...nimmst du mich mit?« fragte er leise.
    »Nimmst du mich mit nach Midian?«
    Sein Blick ließ nicht eine Sekunde von der Tür ab. Es schien, als würde er Boone gar nicht bemerken, bis er ohne Vorwarnung den verletzten Kopf drehte und durch das Zimmer spie. Der von Blut marmorierte Speichel traf vor Boones Füßen auf dem Boden auf.
    »Zum Teufel, verschwinde von hier! Du hältst sie von mir fern. Sie kommen nicht, wenn du hier bist.«
    Boone war zu müde, um zu widersprechen, und zu zerschunden, um aufzustehen. Er ließ den Mann toben.
    »Verschwinde!« sagte er wieder. »Vor deinesgleichen werden sie sich nicht zeigen. Kapierst du das nicht?«
    Boone legte den Kopf zurück und versuchte, sich nicht von den Schmerzen des Mannes überwältigen zu lassen.
    »Scheiße!« sagte der andere. »Ich habe sie verpaßt. Ich habe sie verpaßt!«
    Er stand auf und ging zum Fenster. Draußen herrschte völlige Dunkelheit.
    »Sie sind vorbeigegangen«, sagte er plötzlich flehend.
    Im nächsten Augenblick war er einen Meter von Boone entfernt und grinste durch den Schmutz.
    »Hast du was gegen die Schmerzen?« wollte er wissen.
    »Die Schwester hat mir etwas gegeben«, murmelte Boone.

    31

    Der Mann spuckte wieder; diesmal nicht nach Boone, sondern auf den Boden.
    » Trinken, Mann...« sagte er. »Hast du was zu trinken?«
    »Nein.«
    Das Grinsen verschwand auf der Stelle, das Gesicht verzerrte sich, als Tränen ihn überwältigten. Er wandte sich schluchzend von Boone ab, und seine Litanei fing von vorne an.
    »Warum nehmen sie mich nicht? Warum kommen sie nicht und holen mich?«
    »Vielleicht kommen sie später«, sagte Boone. »Wenn ich fort bin.«
    Der Mann sah ihn an.
    »Was weißt du?« sagte er.
    Sehr wenig, lautete die Antwort; aber wenigste ns diese Tatsache behielt Boone für sich. In seinem Kopf spukten soviel Fragmente der Mythologie von Midian, daß er nach mehr brannte. War es nicht ein Ort, wo jene, die kein Ziel mehr hatten, ein Zuhause finden konnten? Und war das nicht genau sein derzeitiger Zustand? Er hatte keinen Trost mehr. Nicht Decker, nicht Lori, nicht einmal den Tod. Obwohl Midian nichts weiter als ein weiterer Talisman war, wollte er die Geschichte noch einmal erzählt bekommen.
    »Erzähl mir davon«, sagte er.
    »Ich habe dich gefragt, was du weißt«, antwortete der andere Mann und fing das Fleisch unter seinem unrasierten Kinn mit der Klaue der linken Hand.
    »Ich weiß, daß es die Schmerzen nimmt.«
    »Und?«
    »Ich weiß, daß es niemanden abweist.«
    »Das stimmt nicht«, lautete die Antwort.
    »Nein?«
    »Wenn es niemanden abweisen würde, glaubst du, 32

    dann
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