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Bugschuß

Bugschuß

Titel: Bugschuß
Autoren: Hardy Pundt
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Überwachung. Das alles sollte schließlich zur vollkommenen Ohnmacht gegenüber den Vernehmenden führen. Wer das überstand, war danach dennoch ein Wrack. Ein Wunder, dass er überhaupt wieder einigermaßen eigenständig durch das Leben gegangen war, wenn auch nicht wieder richtig Fuß fassen konnte.
    Dann, nach der Wende, und endlich, endlich aus der Haftanstalt entlassen, war Stadtfest in Schwerin gewesen. Er war darüber geschlendert, einfach so, was sollte er schon tun? Und lernte Rieke kennen. ›Wie war das so, in der DDR? Das muss doch echt hart gewesen sein? Mit der Stasi und der Mauer, und so. Wieso sehen die Städte so heruntergekommen aus?‹ Diese typischen Wessi-Fragen, keine Ahnung von nichts! Doch Rieke war so einnehmend gewesen, so schön, so unbeschreiblich … Rieke aus Ostfriesland. Er war mit ihr gegangen, was sollte er noch in seiner Heimat? Sie lebten zusammen, eine kurze Zeit. Bis sie sagte: ›Lass mal, Ralf, es hat keinen Sinn mit uns!‹
    Der Moment in der Gaststätte Meerhaus war das Zeichen. Er war nie gläubig gewesen, bis zu diesem Augenblick. Wie konnte es sein, dass er mit einem Mal neben diesem Menschen saß? Das musste ein Wink sein, Schicksal, wie man es auch immer nennen wollte! Wie eine Krake hatte sich der Gedanke an Rache in ihm festgesetzt. IM Rabe war wieder da. Wer, wenn nicht er , saß damals in dem Wartburg, der immer wieder vor dem Haus gestanden hatte, wenn er abends, in der Dämmerung, zu den Treffen ging. Plötzlich saß dieser Mann neben ihm, hier, am Großen Meer. IM Schweinehund.
    Er wollte ihn nicht erschießen. Er wollte ihn quälen. Er sollte langsam, aber sicher denken: Warum ich? Wer bedroht mich? Wo lauert der? Woher weiß er, wo ich bin? Er selbst kannte Angst und Ungewissheit. Hatte unendlich lange Jahre Angst gehabt. Jetzt sollte der sie spüren.
    Das alles stand auf dem Papier. Vielleicht sollte er den Zettel einfach ins Meer werfen und ihn nicht der Kommissarin überlassen? Würde sich wirklich jemand für seine verworrene Lebensgeschichte interessieren? Wer?
    Meinertz setzte seinen Zeigefinger unter Spannung.
    Tanja Itzenga versuchte es erneut: »Herr Meinertz, überlegen Sie! Lassen Sie uns über alles in Ruhe sprechen. Legen Sie die Waffe weg.«
    Ulferts fürchtete ein Blutbad. Nur das nicht! Aber Tanja Itzenga schien ihn immerhin zum Nachdenken zu bringen.
    »Herr Meinertz, wir wissen inzwischen, was Sie durchgemacht haben. Das wird … alles in Betracht gezogen, in der Verhandlung …« Tanja Itzengas Ruhe war einer gewissen Panik gewichen. Der Mann im Heller sagte nichts, tat nichts, stand einfach da. Was ging in dem vor?
    Meinertz wusste nicht, ob er es schaffen würde. Was kam nach dem Tod? Gab es ein Leben danach? Hinterm Horizont geht’s weiter? Tatsächlich? Er hatte Lindenberg immer gern gehört, schon damals, als seine Musik verboten gewesen war. Auch so eine Geschichte, Mädchen aus Ostberlin. Lindenberg war ein verrückter Typ, doch er hatte aufgerüttelt, auf seine Art die Situation in Ost und West angeprangert. Wie hatte er gefiebert, als bekannt wurde, er würde eine Tournee durch die DDR machen. Bis schließlich die Stasi den Riegel vorschob. So einen brauchte man hier nicht. Wieder so eine zerstörte Hoffnung … Heute wusste man, wie viel Kopfzerbrechen Lindenberg der Stasi damals gemacht hatte. Dabei waren die Betonköpfe schlicht überfordert gewesen, mit all diesen Ereignissen, schon damals, erst recht, als schließlich das Ende bevorstand. Das Ende, endgültig.
    »Herr Meinertz, wir …«, rief Tanja Itzenga durch ihr Megafon, doch Meinertz hörte sie nicht mehr. Er erwachte aus den Gedanken, die innerhalb weniger Sekunden durch sein Hirn geströmt waren. Blitzschnell drehte er die Pistole, hielt sie sich an den Kopf und drückte ab.
    Wie Klaus Störtebeker, der, so ging die Sage, nachdem man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, möglichst viele seiner Kumpane zu retten versuchte, fiel Meinertz nicht sofort. Er taumelte. Aus seinem Schädel schoss stoßweise Blut. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Sein Oberkörper fiel nach ein, zwei Schritten vornüber in den mit Queller überzogenen Schlamm des Watts. Er wand seine letzte Kraft auf, um sich umzudrehen. Hier war Ende, endgültig. Aber nicht so. Nicht mit dem Gesicht im Dreck.
    Die Polizisten auf dem Seedeich hielten den Atem an. Nur eine Lerche war zu hören, die ihr Lied hoch oben am blauen Himmel trällerte, an dem weiße Wolken Richtung Osten zogen.
    Ralf Meinertz war
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