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Brunetti 18 - Schöner Schein

Brunetti 18 - Schöner Schein

Titel: Brunetti 18 - Schöner Schein
Autoren: Donna Leon
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aber um drei von Brunetti geweckt, der schlaflos neben ihr lag und sich die Geschehnisse des vergangenen Tages in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen versuchte, seine Gespräche mit der Contessa, mit Griffoni und schließlich mit Franca Marinello.
    Er brauchte lange, ihr das alles zu erzählen, regelmäßig unterbrochen vom Glockenläuten aus verschiedenen Teilen der Stadt, auf das sie beide nicht achteten. Er konnte erklären, Theorien aufstellen und seine Phantasie spielen lassen, so viel er wollte, was ihn so verfolgte, war der Ausdruck, den sie verwendet hatte: »unerfreuliche Vorlieben«.
    »Gott im Himmel«, sagte Paola, als er es wiederholte. »Ich weiß nicht, was sie damit meint. Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.«
    »Wie kann eine Frau so etwas zwei Jahre lang mit sich machen lassen?«, fragte er und wusste im selben Augenblick, dass er den falschen Ton angeschlagen hatte.
    Statt zu antworten, knipste sie ihre Nachttischlampe an und drehte sich zu ihm herum.
    »Was ist?«, fragte Brunetti.
    »Nichts. Ich möchte nur das Gesicht eines Menschen sehen, der es fertigbringt, eine solche Frage zu stellen.«
    »Welche Frage?«, fragte Brunetti entrüstet. »Wie eine Frau so etwas zwei Jahre lang mit sich machen lassen kann.«
    »Was ist daran verkehrt?«, fragte er. »An der Frage, meine ich.«
    Sie rutschte etwas tiefer und zog sich die Decke über die Schulter. »Erstens setzt diese Frage voraus, dass es so etwas wie weibliches Denken gibt, dass alle Frauen sich unter solchen Umständen gleich verhalten würden«, sagte sie. Sie stützte sich auf einen Ellbogen auf. »Stell dir ihre Angst vor, Guido. Stell dir vor, was sie zwei Jahre lang hat durchmachen müssen. Dieser Mann war ein Mörder, sie wusste, was er mit dem Zahnarzt und seiner Frau gemacht hatte.«
    »Glaubst du, sie hatte das Gefühl, sich opfern zu müssen, um die Illusionen, die ihr Mann sich machte, nicht zu zerstören?«, fragte er und war recht zufrieden mit dieser tugendhaften Formulierung. Dann aber konnte er sich nicht bremsen und schob eine weitere Frage nach: »Gehört das auch zu deinem Feminismus, eine solche Tat zu verteidigen?«
    Paola machte den Mund auf, um zu antworten, fand aber nicht gleich die richtigen Worte. Schließlich sagte sie: »Ausgerechnet du musst so etwas sagen.«
    »Was soll das denn heißen?«
    »Das soll überhaupt nichts heißen, Guido. Es heißt, dass es dir in diesem speziellen Fall nicht gestattet ist, dich als Verteidiger des Feminismus aufzuspielen. Ich gestehe dir sehr viel zu, in einem anderen Moment und unter anderen Umständen kannst du von mir aus verteidigen, was du willst, sogar den Feminismus, aber nicht jetzt, nicht in diesem Fall.«
    »Ich verstehe nicht, wovon du redest«, sagte er, obwohl er fürchtete, dass er sie nur zu gut verstand.
    Sie schlug die Decke zurück, richtete sich auf und sah ihn an. »Wovon ich rede? Ich rede von Vergewaltigung, Guido.« Und bevor er etwas sagen konnte: »Sieh mich bloß nicht so an, als ob ich plötzlich hysterisch geworden wäre und Angst hätte, dass jeder Mann, dem ich mal zulächle, über mich herfallen würde oder dass ich jedes Kompliment für das Vorspiel zu einer Tätlichkeit halte.«
    Er drehte sich um und machte die Lampe auf seiner Seite an. Wenn das ein längeres Gespräch werden sollte - und danach sah es aus -, wollte er Paola dabei sehen.
    »Wir empfinden anders, Guido, und ihr Männer wollt oder könnt das einfach nicht sehen.«
    Sie holte Luft, und er nutzte die Gelegenheit und sagte: »Paola, es ist vier Uhr morgens, und ich möchte mir jetzt keine lange Rede anhören, ja?«
    Er fürchtete, das werde sie erst recht in Fahrt bringen, aber sie reagierte ganz anders: Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich weiß, ich weiß. Ich möchte doch nur, dass du das als eine Situation zu begreifen versuchst, in der eine Frau sich zum Geschlechtsverkehr mit einem Mann bereit erklärt hat, mit dem sie keinen Sex haben wollte.« Sie dachte ein wenig nach. »Ich habe nur ein paar Mal mit ihr gesprochen. Meine Mutter hat sie sehr gern - fast wie eine Tochter -, und auf ihr Urteil kann ich mich verlassen.«
    »Was hat deine Mutter über sie gesagt?«, fragte er.
    »Dass sie nicht lügt«, sagte Paola. »Wenn sie dir also erzählt hat, sie habe das gegen ihren Willen getan - und ich denke, eine Formulierung wie ›unerfreuliche Vorlieben‹ macht das ausreichend klar -, dann war es Vergewaltigung. Auch wenn es sich über zwei Jahre
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