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Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune

Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune

Titel: Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Autoren: Donna Leon
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erreichte, zog er sich daran nach oben.
    Die Menge teilte sich vor der Leiter, und genau in diesem Augenblick tauchte die Sonne aus dem Wasser der Adria empor. Als sie ihre ersten Strahlen über den Damm und die Halbinsel schickte, fielen diese auf Luciano, der soeben auf der obersten Leitersprosse innehielt, und verwandelten den Fischersohn in eine Art Gottheit, die schimmernd den Wassern entstieg. Allen zugleich stockte für einen Augenblick der Atem, als wüßten sie sich in der Gegenwart übernatürlicher Mächte.
    Luciano schüttelte den Kopf, daß die Wassertropfen nach allen Seiten flogen. Dann blickte er seinen Vater an und sagte: »Beide sind in der Kabine.«

3
    D ie Mitteilung des Jungen sorgte kaum für Überraschung bei den Leuten auf der Mole. Wer nicht von dort war, hätte wohl anders auf die Eröffnung reagiert, daß da im Wasser zwei Tote lagen, aber die Leute von Pellestrina kannten Giulio Bottin seit dreiundfünfzig Jahren; viele von ihnen hatten schon seinen Vater gekannt; einige sogar noch seinen Großvater. Die Männer aus der Familie Bottin waren schon immer als hart und gnadenlos bekannt gewesen, Männer, deren Charakter von der Grausamkeit der See vielleicht geformt, bestimmt jedoch beeinflußt worden war. Sollte Giulio ein Opfer von Gewalt geworden sein, so hätte das nur wenige gewundert.
    Manche hatten Marco als anders empfunden, vielleicht eine Folge davon, daß er als erster und einziger aus der Familie Bottin länger als ein paar Jahre zur Schule gegangen war und mehr gelernt hatte, als nur ein paar Worte zu lesen und eine krakelige Unterschrift zu produzieren. Hinzu kam der Einfluß seiner Mutter, die nun schon fünf Jahre tot war. Sie, die ursprünglich von Murano stammte, war eine sanftmütige, liebevolle Frau gewesen, die vor zwanzig Jahren Giulio geheiratet hatte, weil sie, wie einige glaubten, etwas mit ihrem Vetter Maurizio gehabt hatte, der sie verließ, um nach Argentinien zu gehen; andere meinten, ihr Vater, der ein Spieler war, habe bei Giulio hohe Schulden gehabt und ihm zur Begleichung derselben seine Tochter zur Frau gegeben. Die wahre Vorgeschichte dieser Ehe war nie richtig bekannt geworden, aber vielleicht gab es da auch gar nichts zu erzählen. Hingegen hatten alle im Dorf schon immer gewußt, daß zwischen den Eheleuten keinerlei Liebe oder auch nur Sympathie bestand, und die umlaufenden Geschichten waren nichts weiter als Versuche, aus diesem Nichtvorhandensein von Gefühlen schlau zu werden.
    Aber wie auch immer Bianca zu ihrem Gatten gestanden hatte, ihr Sohn war ihr ein und alles gewesen. Flinke Zungen hatten darin den Grund für Giulios Verhalten ihm gegenüber gesehen: kalt, hart, unnachsichtig, ganz in der Tradition der männlichen Linie der Bottins. An diesem Punkt der Geschichte rissen die Leute meist die Arme hoch und sagten, jene beiden hätten nie heiraten dürfen - unweigerlich sagte daraufhin jemand anders, dann hätte es auch nie einen Marco gegeben, und man müsse doch sehen, wie glücklich er Bianca gemacht habe; man brauche ihn ja auch nur anzusehen, um zu wissen, was für ein guter Junge er sei. Das würde nun nie mehr einer in der Gegenwartsform sagen, ab sofort nicht mehr, denn Marco lag tot auf dem Grund des Hafens im ausgebrannten Boot seines Vaters.
    Je heller es wurde, desto weniger wurden die Leute auf der Mole: Nach und nach begab man sich in aller Stille wieder nach Hause. Bald waren die meisten verschwunden, doch dann kehrten die Männer zurück, die man den Platz überqueren und zu ihren Booten gehen sah. Bottin und Sohn waren tot, aber das war kein Grund, auf die Muschelernte eines Tages zu verzichten. Die Saison war so schon kurz genug bei den vielen Vorschriften, die besagten, was man wo und wann überhaupt durfte.
    Schon eine halbe Stunde später lag nur noch ein Boot an der Mole, nämlich der linke Nachbar der gesunkenen Squallus, deren Treibstofftank mit solcher Gewalt explodiert war, daß eine Eisenstange die Seitenwand der Anna Maria etwa einen Meter über der Wasserlinie durchschlagen hatte. Ihr Kapitän, Ottavio Rusponi, hatte zuerst geglaubt, er könne es riskieren und mit den anderen zu den Muschelbänken hinausfahren, doch dann sah er die Wolken, hob die linke Hand in den Wind und entschied sich doch lieber anders, denn dieser Wind kam von Osten auf und wurde stärker.
    Erst um acht Uhr morgens, als Kapitän Rusponi den Versicherungsagenten anrief, um den Schaden an seinem Boot zu melden, kam jemand auf den Gedanken, die
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