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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Autoren: Donna Leon
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    B runetti saß am Schreibtisch und starrte auf seine Füße. Sie lagen auf der herausgezogenen untersten Schublade und erwiderten vorwurfsvoll seinen Blick aus vier senkrechten Reihen kleiner, runder, metallumrahmter Augen. In der letzten halben Stunde hatte er seine Zeit und Aufmerksamkeit abwechselnd den Holztüren seines armadio an der Wand gegenüber und, wenn ihm das zu langweilig wurde, seinen Schuhen gewidmet. Hin und wieder, wenn die scharfe Schubladenkante ihm zu sehr in die Ferse schnitt, schlug er die Beine andersherum übereinander, aber das veränderte lediglich die Anordnung der kleinen runden Augen und trug wenig dazu bei, den Vorwurf in ihrem Blick zu mildern oder ihn selbst von seiner Langeweile zu erlösen.
    Vice-Questore Giuseppe Patta machte seit zwei Wochen Urlaub in Thailand, ein Unternehmen, das die Belegschaft der Questura beharrlich als seine zweite Hochzeitsreise bezeichnete, und Brunetti war solange für die Verbrechensbekämpfung in Venedig zuständig. Aber offenbar war die Kriminalität mit dem Vice-Questore ins selbe Flugzeug gestiegen, denn kaum etwas von Bedeutung hatte sich ereignet, seit Patta mit seiner Frau, soeben heimgekehrt an seinen Herd und - man zitterte - in seine Arme, verreist war, abgesehen von den üblichen Einbrüchen und Taschendiebstählen. Die einzige interessante Missetat war vor zwei Tagen in einem Juweliergeschäft geschehen. Ein gutangezogenes Paar mit Kinderwagen war in den Laden gekommen, und der frischgebackene Vater hatte sich, vor Stolz errötend, nach einem Diamantring erkundigt, den er der noch verlegeneren jungen Mutter schenken wolle. Sie hatte zuerst einen, dann einen anderen anprobiert. Schließlich hatte sie sich für einen lupenreinen Dreikaräter entschieden und gefragt, ob sie ihn sich draußen bei Tageslicht ansehen dürfe. Es kam, wie es kommen mußte: Sie ging vor die Tür, hob die Hand in die Sonne, lächelte und winkte dem jungen Vater, der sich über den Kinderwagen beugte, um die Decken zurechtzuzupfen, verlegen den Juwelier anlächelte und dann zu seiner Frau hinausging. Worauf sie natürlich beide verschwanden und den Kinderwagen samt Babypuppe als Hindernis in der Tür stehenließen.
    So raffiniert das einerseits war, so wenig konnte man es als eine Verbrechenswelle bezeichnen, und Brunetti langweilte sich und wußte nicht recht, was ihm lieber war: die Verantwortung der Befehlsgewalt mitsamt den Papierbergen, die sie hervorzubringen schien, oder die Handlungsfreiheit, die seine untergeordnete Position ihm normalerweise gewährte. Nicht daß mit dieser Freiheit allzuviel anzufangen gewesen wäre...
    Er blickte auf, als es klopfte, und lächelte erfreut, als die Tür aufging und er zum ersten Mal an diesem Tag Signorina Elettra sah, Pattas Sekretärin, die den Urlaub des Vice-Questore offenbar zum legitimen Anlaß nahm, erst um zehn Uhr zur Arbeit zu erscheinen, statt wie sonst um halb neun.
    »Buon giorno, commissario«, sagte sie beim Eintreten, und ihr Lächeln erinnerte ihn flüchtig an gelato all'amarena - Rot und Weiß - zwei Farben, die sich in den Streifen ihrer Seidenbluse wiederfanden. Sie machte einen Schritt zur Seite, um eine andere Frau hinter sich hereinzulassen. Brunetti warf einen kurzen Blick auf die zweite Frau und nahm flüchtig ein kastenförmig geschnittenes Kostüm aus billigem grauen Polyester wahr, dessen Rocksaum sich in unvorteilhafter Nähe zu ihren flachen Schuhen befand. Er sah die Hände der Frau linkisch eine steife Kunstlederhandtasche umklammern und wandte den Blick wieder zu Signorina Elettra.
    »Commissario, hier möchte Sie jemand sprechen«, sagte sie.
    »Ja?« fragte er und blickte, nicht sonderlich interessiert, noch einmal zu der anderen Frau. Aber dann sah er die Kontur ihrer rechten Wange und, als sie den Kopf drehte, um einen Blick durchs Zimmer zu werfen, den feinen Schwung von Kinn und Hals. »Ja?« wiederholte er, diesmal schon interessierter.
    Auf seinen Ton hin wandte die Frau den Kopf und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, und in diesem Moment kam sie Brunetti irgendwie bekannt vor, obwohl er ganz sicher war, sie noch nie gesehen zu haben. Ihm kam der Gedanke, sie könnte vielleicht die Tochter eines Freundes sein, die seine Hilfe suchte und ihm aufgrund der Familienähnlichkeit bekannt vorkam.
    »Ja, Signorina?« sagte er, wobei er sich erhob und auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zeigte. Die Frau sah kurz zu Signorina Elettra, die ihr ein Lächeln schenkte, das sie für
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