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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Autoren: Donna Leon
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brachte sie ihn völlig durcheinander. »Nichts. Gewöhnlich haben wir alle paar Monate einen Todesfall, manchmal auch mehr, gleich nach den Ferien.« Langjährige Erfahrung im Verhör der Willigen wie der Unwilligen gab Brunetti die Ruhe, mit der er fragte: »Warum haben Sie dann diese Liste zusammengestellt?«
    »Zwei der Frauen waren Witwen, die dritte war nie verheiratet. Einer der Männer bekam nie Besuch.« Sie sah ihn an, wartete auf eine Ermunterung, aber er sagte noch immer nichts.
    Ihre Stimme wurde sanfter, und Brunetti sah plötzlich wieder Suor Immacolata in ihrer weißen Tracht vor sich, die schwer mit dem Gebot rang, niemanden zu verleumden, über niemanden schlecht zu reden, nicht einmal über einen Sünder. »Zwei von ihnen«, fuhr sie schließlich fort, »habe ich das eine oder andere Mal sagen hören, daß sie bei ihrem Tod die casa di cura bedenken wollten.« Hier hielt sie wieder inne und blickte auf ihre Hände hinunter, die sich von der Handtasche gelöst und einander fest umklammert hatten.
    »Und? Haben sie Wort gehalten?«
    Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
    »Maria«, sagte er bewußt leise, »heißt das, sie haben nicht Wort gehalten, oder wissen Sie es nur nicht?«
    Sie sah nicht zu ihm auf, als sie antwortete: »Ich weiß es nicht. Aber zwei von ihnen, Signorina da Pré und Signora Cristanti... haben gesagt, daß sie es wollten.«
    »Wie haben sie das gesagt?«
    »Signorina da Pré sagte eines Tages nach der Messe, vor etwa einem Jahr - es gibt keine Kollekte, wenn Padre Pio bei uns die Messe liest - las.« Sie griff sich nervös an die Schläfe, und Brunetti sah, wie ihre Finger zurückglitten und den schützenden Halt ihrer Haube suchten. Sie fand aber nur ihre unbedeckten Haare und zog die Finger weg, als hätte sie sich verbrannt.
    »Nach der Messe«, wiederholte sie, »als ich sie in ihr Zimmer zurückbegleitete, sagte sie, es mache nichts, daß es keine Kollekte gebe, man werde nach ihrem Ableben schon sehen, wie großzügig sie gewesen sei.«
    »Haben Sie nachgefragt, was sie damit meinte?«
    »Nein. Ich fand es völlig klar, daß sie dem Heim ihr Geld vermachen wollte, oder einen Teil davon.«
    »Und?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
    »Wie lange danach ist sie gestorben?«
    »Drei Monate.«
    »Hat sie das noch zu jemand anderem gesagt, das mit dem Geld?«
    »Ich weiß es nicht. Sie hat nicht mit vielen geredet.«
    »Und die andere Frau?«
    »Signora Cristanti«, stellte Maria klar. »Sie war viel direkter. Sie hat gesagt, daß sie ihr Geld den Leuten vermachen wollte, die gut zu ihr waren. Das hat sie zu jedem gesagt, und immer wieder. Aber sie war... Ich glaube nicht, daß sie so eine Entscheidung überhaupt treffen konnte, jedenfalls nicht, nachdem ich sie kennengelernt hatte.«
    »Warum sagen Sie das?« »Sie war nicht ganz klar im Kopf«, antwortete Maria. »Jedenfalls nicht immer. Es gab Tage, da schien sie völlig normal, aber die meiste Zeit war sie nicht ganz da; hielt sich wieder für ein junges Mädchen, wollte ausgeführt werden.« Nach kurzem Schweigen fügte sie in ganz und gar sachlichem Ton hinzu: »Das ist an der Tagesordnung.«
    »Daß die Leute in der Vergangenheit leben?« fragte Brunetti.
    »Ja. Die Armen. Die Vergangenheit ist ihnen wahrscheinlich angenehmer als die Gegenwart. Jede Vergangenheit.«
    Brunetti fiel sein letzter Besuch bei seiner Mutter ein, aber er schob die Erinnerung von sich. Statt dessen fragte er: »Was ist aus ihr geworden?«
    »Signora Cristanti?«
    »Ja.«
    »Sie ist vor etwa vier Monaten einem Herzinfarkt erlegen.«
    »Wo ist sie gestorben?«
    »Dort. In der casa di cura.«
    »Wo hatte sie den Herzinfarkt? In ihrem Zimmer, oder an einem Ort, wo noch andere Leute waren?« Brunetti nannte sie nicht »Zeugen«, nicht einmal in Gedanken.
    »Nein, sie ist im Schlaf gestorben. Friedlich.«
    »Verstehe«, sagte Brunetti, ohne es wirklich zu meinen. Er ließ sich etwas Zeit, bevor er fragte: »Ist diese Liste so zu verstehen, daß die Leute Ihrer Ansicht nach an etwas anderem gestorben sind? Also nicht an dem, was jeweils hinter ihren Namen steht?«
    Sie sah zu ihm auf, und ihre Überraschung wunderte ihn. Wenn sie mit so etwas schon zu ihm kam, mußte sie doch wissen, welche Bedeutung in ihren Worten lag.
    Sie wiederholte, offenbar um Zeit zu gewinnen: »An etwas anderem?« Und als Brunetti keine Antwort gab, sagte sie: »Signora Cristanti hatte nie etwas am Herzen.«
    »Und die anderen auf der Liste,
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