Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
vor Gericht gestanden. Die können mich wegen etwas, was ein paar kleine Mädchen erzählt haben, nicht einfach ins Gefängnis stecken, ohne Gerichtsverhandlung, ohne Urteil.«
    »Sie wurden wegen nichts verurteilt. Sie werden als Seelsorger dorthin versetzt.«
    »Wie? Als Seelsorger?«
    »Ja. Damit Sie sich um die Seelen der Sünder kümmern.«
    »Aber das sind gefährliche Männer«, erklärte Benevento, der seine Stimme nur mühsam ruhig hielt.
    »So ist es.«
    »Was?«
    »Es sind Männer. Auf Asinara gibt es keine jungen Mädchen.«
    Benevento sah sich mit irrem Blick im Zimmer um, ob nicht irgendein vernünftiges Ohr hörte, was man ihm antat. »Aber das können die nicht machen. Ich lege mein Amt nieder. Ich gehe nach Rom.« Diesen letzten Satz brüllte er.
    »Sie werden am Ersten kommenden Monats abreisen«, sagte Brunetti mit eisiger Ruhe. »Das Patriarchat stellt ein Boot, dann wird ein Auto Sie nach Civitavecchia bringen und dafür sorgen, daß Sie das wöchentliche Schiff zur Gefängnisinsel besteigen. Bis dahin haben Sie Ihr Pfarrhaus nicht zu verlassen.
    Wenn Sie es doch tun, werden Sie verhaftet.«
    »Verhaftet?« polterte Benevento. »Wofür denn?«
    Brunetti beantwortete diese Frage nicht. »Sie haben zwei Tage Zeit zur Vorbereitung.«
    »Und wenn ich einfach nicht gehe?« fragte Benevento im Ton dessen, der es gewöhnt ist, vom hohen moralischen Roß herunter zu sprechen. Brunetti antwortete nicht, weshalb der andere seine Frage wiederholte. »Und wenn ich nicht gehe?«
    »Dann bekommen die Eltern dieser drei Mädchen anonyme Briefe, in denen steht, wo Sie sich aufhalten. Und was Sie hier gemacht haben.«
    Beneventos Schock war offenkundig, dann die Angst, so unmittelbar und greifbar, daß er die Frage nicht Unterdrücken konnte: »Was werden die tun?«
    »Wenn Sie Glück haben, verständigen sie die Polizei.«
    »Was meinen Sie damit, wenn ich Glück habe?«
    »Nichts anderes, als was ich gesagt habe. Wenn Sie Glück haben.« Brunetti ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann sagte er: »Serafina Reato hat sich letztes Jahr erhängt. Sie hatte sich ein Jahr lang bemüht, bei irgend jemandem Glauben zu finden, aber keiner wollte ihr zuhören. Sie hat gesagt, daß sie es täte, weil ihr keiner glaubte. Jetzt glaubt man ihr.«
    Benevento riß für einen Moment die Augen weit auf, sein Mund zog sich zu einem engen Rund zusammen. Umschlag und Brief fielen zu Boden, aber Benevento merkte es nicht.
    »Wer sind Sie?« fragte er.
    »Sie haben zwei Tage Zeit«, war Brunettis Antwort. Er stieg mit einem Schritt über die zwei Stücke Papier auf dem Boden und ging zur Tür. Die Hände schmerzten ihn, weil er sie die ganze Zeit zu Fäusten geballt an seinen Oberschenkeln gehalten hatte. Er blickte sich im Weggehen nicht einmal mehr um. Auch schlug er die Tür nicht zu.
    Draußen entfernte Brunetti sich rasch vom Pfarrhaus und bog in eine schmale calle ein, die erste, die er sah, und die ihn zum Canal Grande führen würde. Als er schließlich ans Wasser kam, wo es nicht mehr weiterging, blieb er stehen und schaute zu den Häusern auf der anderen Seite hinüber. Ein Stückchen nach rechts stand der Palazzo, in dem Lord Byron eine Zeitlang gelebt hatte, und in dem daneben hatte Brunettis erste Freundin gewohnt. Boote glitten vorbei und trugen den Tag und seine Gedanken mit sich fort.
    Er empfand keinen Triumph ob seines billigen Sieges; ihn erfüllte höchstens Traurigkeit über diesen Mann und sein elendes, verhunztes Leben. Dem Priester war das Handwerk gelegt, wenigstens für so lange, wie man ihn dank Conte Graziös Macht und Beziehungen auf der Insel festhalten konnte. Brunetti dachte an die Warnung, die er von dem anderen Geistlichen erhalten hatte, und an die Macht und Beziehungen, die hinter dieser Drohung steckten.
    Plötzlich platschten zwei schwarzköpfige Möwen so heftig aufs Wasser, daß es Brunettis Schuhe bespritzte, und begannen um ein Stückchen Brot zu kämpfen. Schnabel an Schnabel rissen sie es zwischen sich hin und her, kreischend und krächzend. Dann schluckte eine von ihnen es hinunter, und gleich darauf beruhigten sich die beiden Vögel und trieben friedlich nebeneinander auf dem Wasser.
    Brunetti blieb eine Viertelstunde dort stehen, bis der Krampf aus seinen Händen gewichen war. Dann steckte er sie in die Jackentaschen, nahm Abschied von dem Möwenpaar und ging durch die calle zurück nach Hause.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher