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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Autoren: Donna Leon
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angetroffen, eine Frau, die mit den Jahren säuerlich geworden war und deren Gelübde für sie Armut im Geiste, Enthaltsamkeit im Humor und Gehorsam nur gegenüber irgendeinem rigiden Pflichtverständnis bedeuteten. Daß seine Mutter sich auch nur einen Augenblick in der Obhut dieser Frau befinden sollte, hatte ihn als Sohn erzürnt; daß die casa di cura als eines der besten Heime galt, hatte ihn als Staatsbürger beschämt.
    Ihre Stimme riß ihn aus seinem langen Tagtraum, aber er bekam nicht mit, was sie sagte, und mußte nachfragen. »Entschuldigen Sie, Suora«, sagte er, sofort gewahr, daß er sie aus langer Gewohnheit doch mit ihrem Titel angesprochen hatte. »Ich war in Gedanken.«
    Sie überging den Ausrutscher und fing noch einmal von vom an: »Ich spreche von der casa di cura hier in Venedig, wo ich bis vor drei Wochen gearbeitet habe. Aber ich habe nicht nur dieses Heim verlassen, Dottore, ich bin aus dem Orden ausgetreten, habe alles hinter mir gelassen, um...« Hier unterbrach sie sich und blickte zum offenen Fenster hinaus auf die Fassade der Kirche San Lorenzo, als suchte sie dort nach dem richtigen Ausdruck. »Um mein neues Leben zu beginnen.« Sie sah ihn an und lächelte dünn. »La vita nuova«, wiederholte sie, hörbar um Ungezwungenheit bemüht, als wäre ihr ebenso bewußt wie ihm, welches Pathos sich da in ihre Stimme geschlichen hatte. »Wir mußten La Vita Nuova in der Schule lesen, aber besonders gut kann ich mich daran nicht mehr erinnern.« Sie sah ihn wieder an, die Augenbrauen fragend hochgezogen.
    Brunetti hatte keine Ahnung, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte; zuerst war von Gefahr die Rede gewesen, jetzt von Dante. »Wir haben das auch gelesen, aber ich glaube, da war ich noch zu jung. Mir hat La Divina Commedia sowieso immer besser gefallen«, erklärte er. »Besonders Purgatorio.«
    »Wie eigenartig«, sagte sie mit echtem Interesse, oder vielleicht auch nur, um das, was sie eigentlich hergeführt hatte, noch etwas hinauszuschieben. »Ich habe noch nie jemanden sagen hören, daß dieses Buch ihm besser gefällt. Warum?«
    Brunetti gestattete sich ein Lächeln. »Ich weiß, die Leute glauben immer, nur weil ich Polizist bin, müsse Inferno mir am besten gefallen. Die Bösen werden bestraft, und jeder kriegt, was er nach Dantes Meinung verdient. Aber mir hat das nie gefallen, diese absolute Gewißheit der Urteile, dieses furchtbare Leiden. Auf ewig.« Sie blieb stumm, sah ihm nur ins Gesicht und hörte zu, was er zu sagen hatte. »Mir gefällt Purgatorio, weil da immer noch die Möglichkeit offenbleibt, daß sich etwas ändert. Für die anderen, ob im Himmel oder in der Hölle, ist alles erledigt: Sie bleiben, wo sie sind. Auf ewig.«
    »Glauben Sie daran?« fragte sie, und Brunetti wußte, daß sie nicht von Literatur sprach.
    »Nein.«
    »Gar nichts davon?«
    »Sie meinen, ob ich daran glaube, daß es einen Himmel oder eine Hölle gibt?«
    Sie nickte, und er fragte sich, ob es wohl Reste eines Aberglaubens waren, die sie davon abhielten, die Worte des Zweifels auszusprechen.
    »Nein«, antwortete er.
    »Nichts?«
    »Nichts.«
    Nach sehr langem Schweigen sagte sie: »Wie schrecklich.«
    Wie schon so viele Male, seit ihm klargeworden war, daß er nicht glaubte, zuckte Brunetti nur die Achseln.
    »Wir werden es wohl irgendwann erfahren«, sagte sie, aber in ihrem Ton lag Zuversicht, kein Sarkasmus, keine Ablehnung.
    Wieder wollte Brunetti im ersten Moment nur die Achseln zucken, denn dies waren Dinge, mit denen er schon vor Jahren abgeschlossen hatte, während des Studiums, da hatte er solchen Kinderkram abgelegt, überdrüssig aller Spekulation und gespannt auf das Leben. Aber ein kurzer Blick zu ihr belehrte ihn, daß sie gewissermaßen eben erst aus dem Ei geschlüpft war, am Beginn ihres neuen Lebens stand, und daß solche Fragen, in der Vergangenheit gewiß undenkbar, für sie jetzt hochaktuell und lebenswichtig waren. »Vielleicht ist es ja alles wahr«, räumte er ein.
    Ihre Antwort kam unverzüglich und heftig. »Sie brauchen mir keine Zugeständnisse zu machen, Commissario. Ich habe meine Berufung hinter mir gelassen, nicht meinen Verstand.«
    Er gedachte weder sich zu entschuldigen noch diese unerhebliche theologische Diskussion fortzusetzen. Er schob einen Brief von einer Seite seines Schreibtischs auf die andere, rückte seinen Stuhl ein Stückchen zurück und schlug die Beine übereinander. »Wollen wir statt dessen darüber sprechen?« fragte er.
    »Worüber?«
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