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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Autoren: Donna Leon
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gefährlich üble Nachrede sei. Als ich sagte, das wisse ich wohl, riet er mir zu beten.« Sie brach ab.
    »Und?«
    »Ich sagte ihm, ich hätte schon gebetet, tagelang. Dann fragte er, ob mir klar sei, was ich da angedeutet hätte, wie grauenvoll das sei.« Wieder unterbrach sie sich und fügte dann leise, wie nur für sich, hinzu: »Er war entsetzt. Ich glaube, die bloße Möglichkeit ging über seinen Verstand. Padre Pio ist ein sehr guter Mensch, und ziemlich weltfremd.«
    Brunetti unterdrückte ein Lächeln. Das von einer Frau, die die letzten zwölf Jahre ihres Lebens in einem Kloster verbracht hatte! »Was dann?«
    »Ich habe um eine Unterredung mit der Mutter Oberin gebeten.«
    »Und Sie haben mit ihr gesprochen?«
    »Es hat zwei Tage gedauert, aber schließlich hat sie mich empfangen, an einem Spätnachmittag, nach der Vesper. Ich habe ihr noch einmal alles gesagt, das mit den verstorbenen alten Leuten. Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Darüber war ich froh, denn es hieß, daß Padre Pio ihr gegenüber nichts erwähnt hatte. Das wußte ich ja eigentlich, aber was ich ihm gesagt hatte, war so schrecklich - also, da war ich mir doch nicht sicher...« Ihre Stimme verebbte.
    »Und?« fragte er.
    »Sie hat mir nicht zugehört, hat gemeint, sie hört sich keine Lügen an, und was ich da angedeutet hätte, schade dem Orden.«
    »Und dann?«
    »Sie hat mir befohlen - unter Berufung auf mein Gehorsamsgelübde -, einen Monat lang zu schweigen.«
    »Heißt das, wenn ich es richtig verstehe, daß Sie einen Monat lang mit keinem Menschen reden durften?«
    »Ja.«
    »Und Ihre Arbeit? Mußten Sie nicht mit den Patienten sprechen?«
    »Bei denen war ich nicht.«
    »Wie denn das?«
    »Die Mutter Oberin hat mir befohlen, mich die ganze Zeit nur in meinem Zimmer und in der Kapelle aufzuhalten.«
    »Einen ganzen Monat?«
    »Zwei.«
    »Wie bitte?«
    »Zwei«, wiederholte sie. »Nach dem ersten Monat kam sie zu mir ins Zimmer und fragte, ob meine Meditationen und Gebete mir schon den richtigen Weg gewiesen hätten. Ich sagte ihr, ich hätte gebetet und meditiert - das hatte ich ja auch -, aber diese Todesfälle gingen mir noch immer nicht aus dem Kopf. Sie wollte wieder nichts hören und befahl mir, mein Schweigen wiederaufzunehmen.«
    »Haben Sie das?«
    Sie nickte.
    »Und dann?«
    »Ich habe die nächste Woche im Gebet verbracht, aber inzwischen konnte ich schon an gar nichts anderes mehr denken als an das, was diese Frauen gesagt hatten. Vorher hatte ich versucht, mir das Darandenken zu verbieten, aber nachdem ich einmal damit angefangen hatte, kam es mir immer wieder in den Sinn.«
    Brunetti konnte sich gut vorstellen, was ihr nach über einem Monat Einsamkeit und Schweigen alles in den Sinn gekommen sein mochte. »Was geschah dann nach dem zweiten Monat?«
    »Die Mutter Oberin kam wieder zu mir und fragte, ob ich zur Vernunft gekommen sei. Ich sagte ja, und das stimmte wohl auch.« Sie hielt mit Reden inne und bedachte Brunetti wieder mit diesem traurigen, nervösen Lächeln.
    »Und dann?« »Dann bin ich weggegangen.«
    »Einfach so?« Brunetti dachte sofort an die praktische Seite: Kleidung, Geld, Transport. Merkwürdigerweise waren das dieselben Dinge, um die sich Leute sorgten, bevor sie aus dem Gefängnis entlassen werden sollten.
    »Noch am selben Nachmittag bin ich mit den Leuten, die zur Besuchszeit gekommen waren, hinausgegangen. Niemand schien das komisch zu finden; keiner hat etwas gemerkt. Ich habe eine der Frauen, die gerade gingen, gefragt, ob sie mir sagen könnte, wo ich mir etwas zum Anziehen kaufen könne. Ich hatte nur siebzehntausend Lire.«
    Sie verstummte, und Brunetti fragte: »Hat sie es Ihnen gesagt?«
    »Ihr Vater war einer meiner Patienten, daher kannte sie mich. Sie und ihr Mann wollten mich gleich zum Abendessen mit zu sich nach Hause nehmen. Da ich sonst nirgends hinkonnte, bin ich mitgegangen. Zum Lido.«
    »Und?«
    »Unterwegs auf dem Boot habe ich ihnen erzählt, wozu ich mich entschlossen hatte, aber über den Grund habe ich ihnen nichts gesagt. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn selbst kannte, oder ihn jetzt kenne. Ich wollte dem Orden oder dem Pflegeheim nichts Böses nachsagen. Das tue ich jetzt doch auch nicht, oder?« Brunetti, der keine Ahnung hatte, schüttelte den Kopf, und sie sprach weiter. »Ich habe nur der Mutter Oberin von diesen Todesfällen erzählt, daß mir das merkwürdig vorkam, so viele auf einmal.«
    Brunetti meinte ganz und gar ruhig: »Ich habe irgendwo
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