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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta
Autoren: Donna Leon
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heilig waren - auch rechtlich unantastbar.
    Brunetti schob die Akten beiseite und starrte auf den leeren Schreibtisch, während er sich ausmalte, welche Mächte hier wohl schon in Bewegung gesetzt worden waren. La Capra war nicht ohne Einfluß. Und nun hatte er einen toten Sohn zu beklagen, einen jungen Mann von hitzigem Temperament. War den beiden Schlägern nicht, einen Tag nachdem sie mit ihrem Anwalt gesprochen hatten, plötzlich eingefallen, daß sie Salvatore einmal sagen gehört hatten, Dottor Semenzato habe seinen Vater unehrerbietig behandelt? Etwas von einer Statue, die er für seinen Vater gekauft und die sich als Fälschung erwiesen habe? Und, ach ja, sie glaubten sich auch zu erinnern, ihn sagen gehört zu haben, er werde dafür sorgen, daß es dem Dottore noch leid tue, seinem Vater oder ihm, der sie für seinen Vater kaufen wollte, gefälschte Kunstgegenstände empfohlen zu haben.
    Brunetti zweifelte nicht daran, daß den beiden im Lauf der Zeit noch mehr einfallen würde, und das alles würde auf den armen Salvatore weisen, der nichts anderes gewollt hatte, als auf fehlgeleitete Weise die Ehre seines Vaters und die eigene zu verteidigen. Wahrscheinlich würden sie sich auch der vielen Male entsinnen, die Signor La Capra seinem Sohn klarzumachen versucht hatte, daß Dottor Semenzato ein ehrlicher Mann sei, der stets in gutem Glauben gehandelt habe, wenn er die Echtheit von Stücken bescheinigte, die dann von seinem Partner Murino verkauft wurden. Vielleicht würden die Richter sich, falls der Fall je so weit kam, auch das Märchen anhören müssen, daß Salvatore, ein getreuer Sohn, kein anderes Bestreben gehabt habe, als seinem Vater Freude zu bereiten. Und Salvatore, nicht der gebildetste junge Mann, aber gut, von Herzen gut, habe diese Geschenke für seinen geliebten Vater auf die einzige Art zu beschaffen versucht, die ihm einfiel, nämlich indem er den Rat des Dottor Semenzato einholte. Und bei solcher Sohnesliebe, solch starkem Verlangen, den Vater zu erfreuen, könne man doch ohne weiteres den Zorn des jungen Mannes nachvollziehen, als er merkte, daß Dottor Semenzato seine Unwissenheit und Gutgläubigkeit auszunutzen versucht hatte, indem er ihm eine Kopie anstelle des Originals verkaufte. Fast von selbst ergebe sich daraus nun dieses zweifache Unrecht an einem gramgebeugten Vater, der nicht nur den Tod seines geliebten einzigen Sohnes zu tragen habe, sondern zugleich das traurige Wissen, zu welchen Taten dieser Sohn fähig gewesen war in dem Bemühen, sowohl den Vater zu erfreuen als auch die Familienehre zu verteidigen.
    Ja, das hielt dicht, und die Beziehungen zwischen La Capra und Semenzato würden, statt als Beweis für seine Schuld zu dienen, für das genaue Gegenteil herhalten, eine Erklärung für das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern, zerstört durch Semenzatos Unaufrichtigkeit und die Impulsivität Salvatores, der ja nun leider für den Arm des Gesetzes unerreichbar war. Brunetti hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß die Justizbehörden letztlich zu dem Ergebnis kommen würden, Salvatore habe den Museumsdirektor umgebracht. Konnte ja sein; man würde es nie genau erfahren. Entweder er oder La Capra selbst hatte es getan oder tun lassen, und beide hatten auf ihre Weise dafür bezahlt. Wäre Brunetti sentimental veranlagt gewesen, dann hätte nach seinem Urteil La Capra den höheren Preis bezahlt, aber er war es nicht, und so hatte wohl doch eher Salvatore den höheren Preis für Semenzatos Tod bezahlt.
    Brunetti stand auf und wandte sich ab von seinem Schreibtisch und den Akten, die zu dieser Schlußfolgerung führten. Er hatte La Capra bei seinem Sohn gesehen, hatte ihn aus dem schleimigen Wasser gezerrt und dem schreienden Mann geholfen, die Leiche des Sohnes zu den drei niedrigen Stufen zu ziehen. Und dort hatten er und Vianello erst mit Hilfe zweier Uniformierter die beiden voneinander trennen und La Capra gewaltsam von dem nutzlosen Versuch abbringen können, die blutlose Wunde am Hals seines Sohnes mit den Fingern zu schließen.
    Brunetti war noch nie der Ansicht gewesen, daß man für ein Leben mit einem anderen Leben bezahlen könne, darum verwarf er noch einmal den Gedanken, La Capra habe für Semenzatos Tod bezahlt. Jeder Schmerz stand für sich allein und konnte nur für sich allein bezahlen. Aber es fiel ihm schwer, persönlichen Haß für einen Mann zu empfinden, den er zuletzt laut weinend in den Armen eines Polizisten gesehen hatte, der nur
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