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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta
Autoren: Donna Leon
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darauf bedacht war, den Mann die Leiche seines Sohnes nicht sehen zu lassen, als man sie, das Gesicht mit Vianellos regenschwerem Mantel zugedeckt, auf einer Bahre abtransportierte.
    Er schob diese Erinnerungen von sich. Das lag nun alles außerhalb seiner Zuständigkeit, andere Instanzen hatten es in die Hand genommen, und er konnte das Ergebnis nicht mehr beeinflussen. Er hatte genug von Tod und Gewalt, genug von gestohlener Schönheit und der Gier nach dem Vollkommenen. Er sehnte sich nach dem Frühling mit seinen vielen Unvollkommenheiten.
    Eine Stunde später verließ er die Questura in Richtung San Marco. Überall sah er die gleichen Dinge, die er schon seit Tagen sah, doch heute nannte er sie Frühlingsboten. Sogar die allgegenwärtigen pastellfarbenen Touristen hoben seine Stimmung. Über die Via XXII Marzo lenkte er seine Schritte zur Accademiabrücke. Auf der anderen Seite sah er die erste Touristenschlange der Saison vor dem Museum auf Einlaß warten, aber von Kunst hatte er für eine Weile genug. Ihn reizte jetzt das Wasser und der Gedanke, dort mit Flavia in der jungen Sonne zu sitzen, Kaffee zu trinken, über dies und das zu plaudern und ihr Gesicht zu beobachten, wie es zwischen Ungezwungenheit und Freude schnell hin und her wechselte. Sie waren um elf bei Il Cucciolo verabredet, und er freute sich schon darauf, das Wasser von unten an die Holzbohlen klatschen zu hören, auf das planlose Herumgerenne der Kellner, die noch nicht ganz aus ihrer Winterlethargie erwacht waren, und auf die großen, tapferen Sonnenschirme, die unbedingt schon Schatten spenden wollten, lange bevor dies nötig war. Und noch mehr freute er sich darauf, Flavias Stimme zu hören.
    Vor sich sah er das Wasser des Canale della Giudecca und dahinter die fröhlichen Häuserfassaden auf der anderen Seite. Von links kam ein Tanker ins Bild, der hoch und leer im Wasser lag, und selbst sein streifiger grauer Rumpf wirkte strahlend und schön in diesem Licht. Ein Hund rannte an ihm vorbei und warf die Hinterbeine hoch, dann drehte er sich um die eigene Achse und versuchte seinen Schwanz zu fangen.
    Am Wasser angelangt, wandte Brunetti sich nach links, auf die Plattform der Bar zu, und hielt dabei Ausschau nach Flavia. Vier Pärchen, ein einzelner Mann, noch einer, eine Frau mit zwei Kindern, ein Tisch mit sechs oder sieben jungen Mädchen, deren Gekicher schon von weitem zu hören war. Aber keine Flavia. Vielleicht hatte sie sich verspätet. Vielleicht hatte er sie aber nur nicht erkannt. Er fing noch einmal am nächststehenden Tisch an und musterte jeden eingehend und in derselben Reihenfolge. Und da sah er sie, die Frau mit den beiden Kindern, einem aufgeschossenen Jungen und einem kleinen Mädchen, das seinen Babyspeck noch nicht verloren hatte.
    Sein Lächeln schwand, und ein anderes trat an seine Stelle. Mit diesem ging er an den Tisch und nahm ihre ausgestreckte Hand.
    Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Ah, Guido, wie schön, dich wiederzusehen. Was für ein herrlicher Tag.« Sie wandte sich an den Jungen und sagte: »Paolino, das ist Dottor Brunetti.« Der Junge, fast so groß wie Brunetti, stand auf und schüttelte ihm die Hand.
    »Buon giorno, dottore. Ich möchte Ihnen danken, daß Sie meiner Mutter geholfen haben.« Es klang, als hätte er den Satz eingeübt, so förmlich gab er ihn von sich, als spräche einer, der ein Mann zu sein versuchte, zu einem anderen, der schon einer war. Er hatte die dunklen Augen seiner Mutter, aber sein Gesicht war schmaler und länglicher.
    »Ich auch, mamma«, piepste das Mädchen, und als Flavia nicht gleich reagierte, stand sie auf und hielt Brunetti die Hand hin. »Ich bin Vittoria, aber meine Freunde sagen Vivi zu mir.«
    Brunetti nahm die Hand und antwortete: »Dann möchte ich gern Vivi zu dir sagen.«
    Sie war noch jung genug, um zu lächeln, und schon alt genug, um sich abzuwenden, bevor sie errötete.
    Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich, dann rückte er den Stuhl so, daß sein Gesicht in der Sonne war. Sie plauderten ein paar Minuten, die Kinder wollten alles mögliche über seinen Polizistenberuf wissen, ob er eine Waffe trage, und da er bejahte, wo er sie habe. Als er es ihnen sagte, fragte Vivi, ob er schon einmal jemanden erschossen habe, und schien enttäuscht über sein Nein. Die Kinder brauchten nicht lange, um zu begreifen, daß ein Polizist in Venedig etwas anderes war als ein Cop in Miami Vice, und auf diese Erkenntnis hin verloren sie das Interesse sowohl an
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