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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Autoren: Hilary Mantel
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erklärte er Jacquelines Mutter, und ihre Tochter gehöre jetzt zu einer guten, alten Familie.
    Innerhalb der nächsten fünf Jahre gingen drei weitere Kinder aus der Ehe hervor. Erst Übelkeit, dann Angst, dann Schmerz, das war bald der Normalzustand für Jacqueline. Sie erinnerte sich an kein anderes Leben mehr.
    An jenem Tag las ihnen Tante Eulalie eine Geschichte vor. Sie hieß »Der Fuchs und die Katze«. Tante Eulalie las sehr schnell, blätterte hastig um. Das nennt man »nicht bei der Sache sein«, dachte er. Als Kind bekäme man dafür eine Ohrfeige. Dabei war es sein Lieblingsbuch.
    Wie sie so das Kinn vorstreckte, wenn sie jemandem zuhörte, und ihre sandfarbenen Augenbrauen zusammenzog, ähnelte sie selbst dem Fuchs. Da ihn keiner beachtete, ließ er sich auf den Boden gleiten und spielte mit der Spitze an ihrer Manschette. Seine Mutter konnte Spitze klöppeln.
    Eine böse Vorahnung beschlich ihn – er durfte sonst nie auf dem Boden sitzen (die guten Kleider abnutzen).
    Seine Tante unterbrach sich mitten im Satz, um zu horchen. Oben lag Jacqueline im Sterben. Ihre Kinder wussten es noch nicht.
    Die Hebamme hatte man hinausgeschickt, denn sie war keine Hilfe gewesen. Sie saß jetzt in der Küche und aß Käse, schälte ihn mit Hingabe von der Rinde herunter und ängstigte das Dienstmädchen mit Geschichten von ähnlichen Fällen. Man hatte nach dem Wundarzt geschickt; François stand oben auf der Treppe und diskutierte mit ihm. Tante Eulalie sprang auf und schloss die Tür, aber sie waren immer noch zu hören. Sie las mit einem eigenartigen Unterton und stieß dabei mit ihrer schmalen weißen Damenhand sanft Augustins Wiege an, wieder und wieder.
    »Ich sehe keine andere Möglichkeit, sie zu entbinden«, sagte der Mann, »als durch einen Schnitt.« Er sprach das Wort sichtlich ungern aus, aber er musste es benutzen. »Das Kind können wir dadurch vielleicht retten.«
    »Retten Sie sie «, sagte François.
    »Wenn ich nichts tue, werden beide sterben.«
    »Lassen Sie das Kind sterben, aber retten Sie sie .«
    Eulalie umklammerte jäh den Rand der Wiege, und bei dem plötzlichen Ruck begann Augustin zu weinen. Der glückliche Augustin – er war bereits geboren.
    Sie stritten jetzt lautstark; der Wundarzt war ungehalten, weil der Laie so begriffsstutzig war. »Dann kann ich auch gleich den Metzger holen!«, schrie François.
    Tante Eulalie erhob sich, und das Buch rutschte ihr aus der Hand, glitt an ihrem Rock hinunter und landete aufgeklappt auf dem Boden. Sie rannte die Treppe hinauf. »Nicht so laut, Herrgott noch mal! Die Kinder!«
    Die Seiten fächerten sich auf – der Fuchs und die Katze, die Schildkröte und der Hase, die kluge Krähe mit dem glitzernden Auge, der Honigbär unter dem Baum. Maximilien hob das Buch auf und strich die Eselsohren glatt. Er legte das pummelige Händchen seiner Schwester auf die Wiege. »So«, sagte er und stieß die Wiege an.
    Sie hob ihr Gesicht mit dem schlaffen Kindermund. »Warum?«
    Tante Eulalie ging an ihm vorüber, ohne ihn wahrzunehmen, Schweißtröpfchen an der Oberlippe. Er tapste die Treppe hinauf. Sein Vater saß in sich zusammengesunken in einem Sessel und weinte, den Arm vor den Augen. Der Wundarzt wühlte in seiner Tasche. »Meine Zange«, sagte er. »Ich will es zumindest versuchen. Manchmal ist diese Technik erfolgreich.«
    Das Kind stieß die Tür einen Spaltbreit auf, gerade so weit, dass es hindurchschlüpfen konnte. Die Fenster waren geschlossen, um den Frühsommer auszusperren, das Gesumme und den Duft aus Garten und Feldern. Ein kräftiges Feuer brannte, und in einem Korb lagen weitere Scheite bereit. Eine drückende, sichtbare Hitze erfüllte den Raum. Seine Mutter lehnte in den Kissen, ihr Körper in Weiß gehüllt, das Haar aus der Stirn gekämmt und von einem Band gehalten. Sie wandte ihm den Blick zu, nur die Augen, nicht den Kopf, mit einem angedeuteten, leblosen Lächeln. Die Haut um ihren Mund war grau. Bald, schien sie zu sagen, werden wir beide voneinander scheiden.
    Als er das sah, wandte er sich ab. An der Tür hob er die Hand in ihre Richtung, eine zaghafte Erwachsenengeste, die Solidarität ausdrückte. Draußen vor der Tür hatte der Wundarzt mittlerweile abgelegt und wartete darauf, dass ihm jemand den Mantel, den er überm Arm hielt, abnahm. »Wenn man mich ein paar Stunden früher geholt hätte …«, sagte er, an niemand Bestimmten gerichtet. François’ Sessel war leer. Er schien das Haus verlassen zu haben.
    Der Priester
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