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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Autoren: Hilary Mantel
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stillhalten und untersuchten seine Gliedmaßen auf Brüche. Seine Nase war gebrochen. Er atmete Blutblasen. »Schneuz dich nicht«, sagte der Mann. »Sonst fliegt dein Gehirn raus.«
    »Bleib ganz still liegen, Georges-Jacques«, sagte Anne Madeleine. »Du hast dem Bullen einen ordentlichen Denkzettel verpasst. Wenn er dich das nächste Mal sieht, rennt er davon.«
    Seine Mutter sagte: »Ich wünschte, ich hätte einen Mann.«
    Niemand hatte vor dem Unfall groß auf seine Nase geachtet, sodass keiner sagen konnte, ob ein vornehmes körperliches Merkmal Schaden genommen hatte. Aber von der Wunde, die ihm der Bulle ins Gesicht gerissen hatte, blieb eine hässliche Narbe zurück. Sie verlief seitlich über seine Wange und mündete als bräunlich-roter Sporn in seiner Oberlippe.
    Im folgenden Jahr bekam er die Pocken. Die Mädchen ebenso; wie es sich fügte, überlebten sie alle. Seine Mutter empfand seine Pockennarben nicht als Beeinträchtigung. Wenn schon hässlich, dann am besten gleich richtig, gleichsam aus vollem Herzen. Nach Georges drehten sich die Leute um.
    Als er zehn war, heiratete seine Mutter wieder. Einen Kaufmann aus dem Ort namens Jean Recordain; er war Witwer und hatte einen (ruhigen) Jungen großzuziehen. Er hätte ein paar kleine Eigenheiten, aber sie war der Ansicht, dass sie sehr gut zusammenpassten. Georges ging zur Schule, einer kleinen in der Nachbarschaft. Er merkte schnell, dass er völlig mühelos lernte, und ließ sich in seinem Leben folglich durch die Schule nicht weiter beirren. Eines Tages rannte ihn eine Herde Schweine um. Er trug Wunden und Prellungen davon, ein, zwei weitere Narben, die unter seinem drahtigen Haar verschwanden.
    »Das ist mit Sicherheit das letzte Mal, dass ich auf mir herumtrampeln lasse«, sagte er. »Ob von Vierbeinern oder von Zweibeinern.«
    »Gebe Gott, dass es so sei«, sagte sein Stiefvater andächtig.
    Ein Jahr verstrich. Eines Tages brach er plötzlich zusammen, mit hohem Fieber und klappernden Zähnen. Er hustete, hatte blutigen Auswurf und ein Schaben und Rasseln in der Brust, das im ganzen Zimmer zu hören war. »Es steht vermutlich nicht gut um seine Lunge«, sagte der Arzt. »Nachdem immer wieder Rippen in sie hineingedrückt worden sind. Tut mir leid, meine Liebe. Sie holen wohl besser den Priester.«
    Der Priester kam und gab ihm die letzte Ölung. Doch in der folgenden Nacht starb der Junge nicht. Und auch drei Tage später klammerte er sich noch an ein komatöses Halbleben. Seine Schwester Marie-Cécile organisierte eine Gebetskette und übernahm selbst die anstrengendste Schicht, von zwei Uhr morgens bis zum Tagesanbruch. Der Salon füllte sich mit Verwandten, die herumsaßen und versuchten, das Richtige zu sagen. Beklommenes Schweigen wechselte sich mit dem verzweifelten Durcheinanderreden aller Anwesenden ab. Von jedem Atemzug wurde Kunde gegeben.
    Am vierten Tag setzte er sich auf, erkannte seine Familie. Am fünften Tag machte er Witze und verlangte nach größeren Mengen Essen.
    Der Arzt erklärte, er sei außer Gefahr.
    Man hatte vorgehabt, das Grab zu öffnen und ihn neben seinem Vater zu bestatten. Der Sarg, der bereits in einem Nebengebäude wartete, musste zurückgeschickt werden. Glücklicherweise hatte man nur eine Anzahlung geleistet.
    Während Georges-Jacques genas, unternahm sein Stiefvater eine Fahrt nach Troyes. Als er wiederkam, verkündete er, er habe einen Platz am Konvikt für den Jungen organisiert.
    »Du Trottel«, sagte seine Frau. »Gib’s zu, du willst ihn doch nur aus dem Haus haben.«
    »Wie soll ich mich meinen Erfindungen widmen?«, fragte Recordain sachlich. »Ich lebe auf einem Schlachtfeld. Wenn es keine trampelnden Schweine sind, ist es eine rasselnde Lunge. Wer sonst steigt im November in den Fluss? Wer steigt überhaupt in den Fluss? In Arcis muss man nicht schwimmen können. Der Junge kennt keine Grenzen.«
    »Vielleicht kann ja wirklich ein Priester aus ihm werden«, sagte Madame versöhnlich.
    »O ja«, sagte Onkel Camus. »Ich sehe es richtig vor mir, wie er sich um seine Schäfchen kümmert. Vielleicht schicken sie ihn ja auf einen Kreuzzug.«
    »Ich frage mich, woher er seine Intelligenz hat«, sagte Madame. »In der Familie liegt sie jedenfalls nicht.«
    »Danke«, sagte ihr Bruder.
    »Wobei er natürlich nicht Priester werden muss, wenn er aufs Konvikt geht. Er kann auch Jurist werden. Es gibt schon ein paar Juristen in der Familie.«
    »Und wenn ihm die Entscheidung nicht behagt? Man mag es sich gar
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