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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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dieselbe Entfernung bis nach Penfret.
    Dupin schaute sich um. Es war ein unglaubliches Panorama. Er stand auf einem Rest Sand, den die auflaufende Flut unaufhaltsam einnahm. Vollkommen im Nichts. Im Ozean. Wenn er sich einmal um sich selbst drehte, sah er den gesamten Archipel, hier verdeckte keine Insel die andere. Heute wirkten sie alle unfassbar nah. Gedrängt fast, penibel kreisrund aufgereiht. Als hätten sie sich neu angeordnet. Die Luft war ungeheuer klar.
    Dupin machte ein Boot aus, das offensichtlich von Saint-Nicolas kam und, so schien es ihm, auf ihn zuhielt. Zuerst hatte er gedacht, dass es die Durchfahrt zwischen Bananec und Guiriden anvisierte, aber dafür kam es doch zu deutlich auf ihn zu. Es war ein spitzes, schmales Boot. Jetzt erkannte er es. Es war die Bir. Er sah Goulch auf seinem erhöhten Kapitänsstand. Im Bug die beiden jungen Polizisten. Dupin griff nach seinem Handy, bis ihm einfiel, dass er hier ja tatsächlich keinen Empfang hatte. Goulch machte ihm Zeichen mit beiden Händen. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung verstand Dupin. Goulch wollte ihn an Bord holen, mit aufs Festland nehmen.
    Dupin hatte eigentlich vorgehabt, noch einmal ins Quatre Vents zu gehen. Noch einmal Solenn Nuz zu sehen. Aber vielleicht war das keine gute Idee. Es war vielleicht nicht der geeignete Zeitpunkt dafür. Er würde ohnehin sehr bald noch einmal mit ihr sprechen müssen. Schon wegen der Formalitäten, wegen des Berichts. Der offiziellen Aussagen. Dupin hatte sich gestern geschworen, nicht ein einziges Mal mehr einen Fuß auf ein Boot zu setzen. Sich nur noch per Hubschrauber zu bewegen. Der Vorteil des Bootes wäre jedoch: Er wäre rasch zurück. Und die Bir könnte ihn genau dort absetzen, wo er hinwollte, er würde keine Zeit verlieren. Und sein Interesse, das schon fast einer Sehnsucht gleichkam, ohne Verzögerung dort hinzukommen, war groß. Es war Viertel nach eins. Es würde gerade noch so hinhauen.
    Das Beiboot war schon zu Wasser gelassen, an Bord befand sich einer der beiden jungen Polizisten in den übergroßzügig geschnittenen Funktionsuniformen.
    Vier, fünf Meter vor seinem Fast-Inselchen machte das kleine Boot halt. Erwartungsvoll und freundlich sah ihn der Polizist an. Dupin verstand. Und dieses Mal setzte er sich kurz hin, zog Schuhe und Socken aus, krempelte die Hose hoch – und schritt ohne Zögern durch den Atlantik. Zwei Minuten später war Kommissar Dupin an Bord der Bir.
    Goulch nickte dem Kommissar zu, Dupin wusste nicht genau, was es bedeutete, aber es schien viel zu bedeuten. Ein tiefes Einvernehmen. Dupin nickte zurück, mit der gleichen reduzierten, vielsagenden Kopfbewegung.
    Umgehend nahm das Boot Fahrt auf. Kommissar Dupin stellte sich ins Heck, hinter den Kapitänsstand. Die beiden Polizisten standen ziemlich genau in der Mitte des Bootes, rechts und links an der Reling.
    Dupin fiel das alles schwer. Dieser Fall. Die »Auflösung«. Auch seine eigene Entscheidung. Die Entscheidung, es bei dem zu belassen, was formuliert worden war. Was aber nicht der Wahrheit entsprach, da war Dupin sich sicher. War das richtig? Er dachte an den alten Mann. Er dachte an Solenn Nuz. An Nolwenns Worte. Dass die Glénan ihr Reich seien. Ein magisches Reich. Und daran, dass Solenn Nuz einen Traum gehabt hatte, gemeinsam mit ihrem Mann. An diesem Ort zu leben. An ihrem Ort. Diesen Traum hatte man ihr brutal genommen. Für immer. Was hatte Solenn Nuz verdient? Sie würde allein sein, ihr Leben lang. So oder so.
    Dupin war klar, dass er es sich zu einfach machte, wenn er die Frage nach dem »richtig« als die »falsche Frage« abtat. Denn es war eine grundlegende Frage, aber: Vielleicht war es nicht die einzige? Oder es gab zwei wahre Antworten. Vielleicht war er, Georges Dupin, in eine unlösbare Lage geraten. Die gab es.
    Dupin merkte, wie unendlich müde er war. Wie vollkommen erschöpft. So sehr, dass ihm sogar das Bootfahren auf offenem Meer bei starkem Seegang und vollem Speed nichts ausmachte. Er sollte aufhören zu grübeln. Das führte in seiner Verfassung zu nichts. Dieser Fall, das wusste er, würde ihn noch lange, sehr lange begleiten.
    Die Inseln hatten eben noch scharf umrissen hinter ihnen gelegen, fast greifbar, und jetzt, nur wenig später, waren sie mit einem Mal nur noch nebulöse Silhouetten, die mit jedem Meter, den die Bir dahinraste, diffuser wurden. Seine Augen suchten angestrengt den Horizont ab. Er hätte jetzt schon nicht mehr sagen können, ob es nicht lediglich
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