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Brennende Kälte

Brennende Kälte

Titel: Brennende Kälte
Autoren: Wolfgang Schorlau
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ertrunken.
    Natürlich kannte er diesen Traum. Er hatte ihm Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht. Aber lange schon hatte er ihn nicht mehr geträumt. So lange, dass er bereits gedacht hatte, er könne ihn für immer vergessen. Sein Blick wanderte die Decke entlang. Dann wandte er langsam den Kopf nach rechts und fixierte den kleinen schwarzen Punkt neben der Nachttischlampe und fragte sich, ob das eine Mücke war. Auf dem kleinen Podest an der Wand stand die Marienstatue aus Kirschholz. Früher hatte ihr Mantel tiefblauen Lack getragen. Es sah aus, als sei die Maria aus Lapislazuli. Doch die Zeit hatte vieles verbleichen lassen. Nicht nur den Mantel der Mutter Gottes.
    Es war bereits halb acht.
    Er hatte keine Lust auf die allmorgendlichen Liegestütze.
    Als er noch beim Bundeskriminalamt war, stand er jeden morgen um sechs auf. Falsch, dachte er, ich sprang aus dem Bett, spätestens um halb sieben.
    Dann Liegestütze. Hundert, wenn es sein musste.
    Aber er war kein Polizist mehr.
    Und er hatte keine Lust auf Liegestütze. Wie lange das alles her war? Gerade mal drei, vier Jahre, und trotzdem kam es ihm vor, als sei das alles in einem anderen Leben gewesen.
    Ich bin ein Mann in den mittleren Jahren, kam ihm plötzlich in den Sinn.
    Warum denke ich nicht: Ich bin ein Mann in den besten Jahren? In den mittleren Jahren, das klingt nach Kurz-vorm-Altwerden, nach: Von nun an geht's bergab.
    Ich bin ein Mann in den besten Jahren, dachte er, aber dieser Gedanke hob seine Stimmung auch nicht.
    Ich bin ein ehemaliger Polizist. Aber auch das rief kein Echo in ihm hervor.
    Ich war ein erfolgreicher Zielfahnder.
    Lange her.
    Kein Echo.
    Nur Stille.
    Er dachte an seine Zeit als Polizist, aber es war, als erinnere er sich dabei an das Leben eines anderen, eines Fremden, den er gekannt hatte, dessen Geschick ihn aber nun nichts mehr anging.
    Mein früheres Leben ist mir fremd geworden.
    Ich muss meine Mutter anrufen, schoss es ihm durch den Kopf.
    Sie würde ihm Vorwürfe machen, weil er sich seit drei Wochen nicht mehr gemeldet hatte. Noch immer hatte er ihr nicht gesagt, dass er den Job beim BKA gekündigt hatte und nun privater Ermittler war.
    Ich bin ein Mann in den mittleren Jahren, mit Albträumen, der beim Aufwachen an seine Mutter denkt.
    Keine erfreuliche Vorstellung. Dann doch lieber Liegestütze.
    Er warf die Decke zurück, stieg aus dem Bett, legte sich bäuchlings auf den Baumwollläufer und stemmte sich mit beiden Armen in die Höhe.

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    Im besten Alter
    Vierzig Minuten später zog er die Wohnungstür hinter sich zu und klingelte an Olgas Tür. Das tat er immer, obwohl Olga ihm einen Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben hatte. Auch sie besaß einen Schlüssel zu seiner Wohnung, den sie nur selten benutzte. Sie klopfte stets an, wenn sie zu ihm hinunterkam. Wenn einer von ihnen verreist war, ging der andere nicht in dessen Wohnung. Sie hatten das nie so abgesprochen, aber es hatte sich so ergeben.
    Georg und Olga wohnten im Stuttgarter Bohnenviertel über dem Basta, einem beliebten Restaurant mit Bar, abgelegen, aber doch im Zentrum der Stadt. Als sie ein Paar wurden, hatten beide ihre Wohnungen behalten, Olga ihre im Dachgeschoss und Georg Dengler seine einen Stock tiefer. Erstaunlicherweise hatten sie noch nie darüber gesprochen, ihre beiden Wohnungen gegen eine gemeinsame, vielleicht größere einzutauschen. Es wurde zur Gewohnheit, dass Georg Dengler deutlich öfter bei Olga schlief als sie bei ihm. Häufig aber übernachtete er alleine in seiner Wohnung, wenn er länger arbeitete, las oder einfach allein sein wollte. Das große, zwei mal zwei Meter breite Bett mit dem schwarzen Metallrahmen, das er sich gekauft hatte, war die einzige Anschaffung, die sich direkt aus ihrer Verbindung ergab. Sonst blieb alles so, wie es war. Seine Bücher, CDs und Bilder blieben weiter in seiner Wohnung im ersten Stock, und sogar seine Zahnbürste brachte Georg jedes Mal mit, wenn er über Nacht bei Olga blieb.
    Wenn Georg über Olga und sich nachdachte, fiel ihm auf, dass er kein zufriedenstellendes, kein treffendes Wort für ihre Verbindung fand. Beziehung lehnte er ab, da dieser Begriff nach seinem Geschmack eher zu Paaren passte, die langjährig, unverheiratet, aber bereits sexlos zusammenlebten. Affäre war viel zu wenig. Freundschaft war bei ihm reserviert für gleichgeschlechtliche Freundschaften, Freundschaft war für ihn immer Männerfreundschaft. Und es war auch mehr als reine Freundschaft. Denn, keine Frage, er
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