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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln
Autoren: L Reese
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hätte er ihr wahrscheinlich leid getan. Danach wartete sie mehrere Tage vergeblich auf seinen Anruf. Schließlich rief sie ihn an. Es war peinlich und erniedrigend. Vielleicht könnten sie trotzdem Freunde sein, hatte er in freundlichem Ton gesagt. Sie hatte sein gutgemeintes, aber halbherziges Angebot abgelehnt, indem sie einfach auflegte.
    Michael würde so etwas nie tun, dachte sie jetzt. Michael. Er war doppelt so alt wie sie, achtundvierzig, das hatte sie inzwischen erfahren – nur sechs Jahre jünger, als ihr Vater gewesen wäre –, aber sie hatte sich noch nie bei einem Menschen so wohl gefühlt wie in seiner Gegenwart. Manchmal, wenn sie zu Hause war, phantasierte sie ein bißchen vor sich hin, gab Michael einen Platz in ihrem Leben, machte ihn zu ihrem Freund. Sie hatte keine Ahnung, was er von ihr dachte oder ob
er überhaupt an sie dachte. Obwohl er immer nett zu ihr war und sie wirklich zu mögen schien, kam er ihr unerreichbar vor.
    Sie hörte im Gras hinter sich Schritte rascheln und lächelte, weil sie wußte, daß es Michael war.
    »Hallo, Franny.«
    Beim Klang seiner Stimme drehte sie sich um. Es war immer, als tauche er aus dem Nichts auf und ertappe sie bei ihren Tagträumen. Sie lächelte ihn an. Er hatte etwas Sinnliches an sich, das sie nicht verstand, etwas Mächtiges, das sie wie eine Unterströmung mit sich zu reißen schien. Zugleich aber sprach aus seinen dunklen, kühlen Augen und dem beherrschten Ton seiner Stimme etwas Distanziertes, das in ihr den Wunsch weckte, die Arme auszustrecken und ihn an sich zu ziehen, obwohl sie genau wußte, daß sie das nie tun würde.
    Er setzte sich neben sie ins Gras und lehnte sich auf die Ellbogen zurück, ohne auf die Kälte zu achten. Seine Kleidung, eine braune Hose und eine Jacke, deren Ärmel er bis zu den Ellbogen hinaufgeschoben hatte, wirkte lässig, aber er hatte immer etwas Formelles an sich, egal, was er trug. Er wirkte aufgeräumt, stets im reinen mit sich selbst, während Franny, die sich verfroren und ungepflegt fühlte, ein formloses Bündel sich bauschender Klamotten war: übergroßer Mantel, schwarze Jeans, Zopfpulli, Wollschal und Handschuhe.
    Schweigend beobachtete er das junge Paar auf der Brücke. Sie wandten sich ab und gingen Hand in Hand davon.
    »Junge Liebe«, sagte er mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme. Franny sah ihn an, erwartete, daß er weitersprechen würde. Aber er schwieg.
    »Ich finde die beiden irgendwie süß«, sagte sie schließlich leise.
    Michael sah sie nachdenklich an. Sein Blick war durchdringend, als könnte er ihre Gedanken lesen. Verunsichert senkte sie den Kopf. Ein unerwarteter Windstoß ließ ihre Haare fliegen. Dann spürte sie plötzlich, wie er ganz leicht mit
dem Handrücken über ihre Wange fuhr – das erste Mal, daß er sie berührte.
    »Du hast recht, Franny«, sagte er. »Es kann sehr süß sein.« Dann fügte er hinzu: »Für dich war es nie so, oder?«
    Bin ich so leicht zu durchschauen? fragte sie sich und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Es war ihr peinlich, daß er wußte, daß sie mit vierundzwanzig Jahren noch nie verliebt gewesen war, nie auch nur ansatzweise in Versuchung gewesen war, sich zu verlieben. Sie wollte ihm gerade antworten, ihm sagen, daß die Liebe für sie tatsächlich nie süß gewesen sei, als eine Frau vorbeikam, eine zierliche Person mit welligem schwarzem Haar, die Michael lächelnd begrüßte und im Vorbeigehen mit ihm flirtete. Sie war sehr hübsch, mit geschwungenen, sauber gezupften Augenbrauen und geschminkten Lippen, und sie trug ein enges weinrotes Leinenkostüm, das bei einer größeren Frau längst nicht so attraktiv ausgesehen hätte.
    Franny spielte mit dem Gras. Sie riß einen Halm mit der Wurzel aus. »Sie ist hübsch«, sagte sie schließlich. Dann fügte sie hinzu: »Ich glaube, sie mag dich.«
    Michael sah sie mit einem halben Lächeln an, und sie wurde rot, weil er erraten hatte, daß sie eifersüchtig war.
    »Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Ich bin nicht an ihr interessiert. Soll ich dir sagen, wie der Typ Frau aussieht, der mich interessiert?«
    »Oh«, sagte Franny. »Ich weiß nicht …« Ihre Stimme verlor sich. Sie wußte nicht, ob sie ihn über andere Frauen reden hören wollte.
    Michael lachte tief und freundlich. Er sagte: »Fahren wir zu mir. Ich glaube, es ist Zeit, daß ich mit dir schlafe.«
    Franny blinzelte. In ihrer Phantasie passierte es nie auf diese Weise. Da sagte er niemals: »Ich glaube, es ist
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