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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln
Autoren: L Reese
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frühere Zeiten. Es war der feuchte, humusschwere Geruch längst vergessener Orte und alter Zivilisationen, die unter unzähligen Schichten von Schutt und Verwesung begraben lagen.
    Sie überquerte einen hölzernen Brückenbogen, um zu einem grasbewachsenen Hügel auf der anderen Seite des Flußarmes zu gelangen. Hier dehnte sich das Wasser zu einem breiten, trüben Teich aus. Ein guter Platz, um Enten zu beobachten. Zu dieser Tageszeit, am späten Nachmittag, war auf dem Campus wenig los, und sie hatte diesen Ort so ziemlich für sich allein. Sie stieg ab, setzte sich ins Gras und hing ihren Tagträumen nach. Sie hoffte, daß Michael vorbeikommen würde. Die Luft war kühl – aber nicht so kalt, wie sie in ein paar Wochen sein würde, wenn der Nebel sich über das Land senkte und einem bis in die Knochen kroch –, und der Himmel hatte eine Art schmuddelige Spülwasserfarbe, stumpf und grau. Ein leichter Wind kräuselte die Oberfläche des Wassers und raschelte durch die Baumwipfel. Hin und wieder ließ ein stärkerer Windstoß rötlichbraune Blätter durch die Luft flattern.
    Franny schlang die Arme um die Knie, um sich warm zu halten. Der Rasen war gerade erst gemäht worden und verströmte noch den frischen, feuchtgrünen Geruch frisch gemähten Grases. Vor vielen Jahren, als sie noch ein Kind war, war ihr Vater mit ihr und Billy manchmal hierhergekommen. Ihre ältere Schwester Nora war damals schon im Teenageralter und nicht dazu zu bewegen, sie zu begleiten. Aber Franny und Billy liebten das Arboretum, und manchmal saßen sie einfach bloß da, wie in Trance, mit geschlossenen Augen, und saugten die Geräusche rundherum in sich auf. Oft hörten sie auch zu, wie ihr Vater, ein Experte für Umweltfragen, ihnen von der Beziehung des Menschen zur Natur erzählte. Es gebe ein evolutionäres Band, hatte er ihnen mehr als einmal erklärt, das sich im Laufe von Millionen Jahren entwickelt habe und
die Menschen untrennbar mit ihrer Umgebung verbinde, mit der Erde, der Sonne, dem Himmel. Und tatsächlich: Hier draußen, wo nur das Rauschen des Windes in den Bäumen, das sporadische Geschnatter der Enten und hin und wieder das zischende Geräusch eines vorbeifahrenden Radfahrers zu hören war – hier draußen fühlte sie sich irgendwie ruhig, verwurzelt. Ob das die Anziehungskraft der Natur war oder die schützende Kraft ihrer liebevollen Erinnerungen an ihren Vater, wußte sie nicht. Inzwischen gehörte für sie beides untrennbar zusammen.
    Zwei College-Studenten, ein Junge und ein Mädchen, gingen Arm in Arm über die Brücke und blieben in der Mitte stehen, um auf das Wasser hinabzublicken. Wehmütig beobachtete Franny ihre sorglosen, verträumt lächelnden Gesichter. Sie waren offensichtlich verliebt. Franny mußte ebenfalls lächeln. Sie hörte die beiden reden, konnte aber die einzelnen Worte nicht verstehen. Ihr Lachen stieg in die Baumwipfel hinauf.
    Franny ließ ihren Blick weiter in Richtung Campus schweifen. Sie hielt nach Michael Ausschau. Vor drei Wochen hatte sie ihn hier kennengelernt. Sie hatte gerade altes Brot aus einer Tüte an die Enten verfüttert, als plötzlich jemand hinter ihr gesagt hatte: »Sie sind keine Studentin.«
    Erschrocken war sie herumgefahren. Sie hatte Michael vorher noch nie gesehen. Er war groß, mit olivfarbener Haut und dunklem Haar, das an den Schläfen bereits ergraute. Aus den Falten in seinem Gesicht hatte sie geschlossen, daß er Ende Vierzig sein mußte. Er hatte etwas Wissendes, fast Zynisches an sich, als hätte er schon alles gesehen und getan. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen und starrte sie mit unergründlicher Miene an, ohne zu blinzeln. Franny senkte den Kopf. Als sie wieder aufblickte, beobachtete er sie noch immer. Seine Augen wirken kalt und gefühllos, hatte sie damals gedacht, aber dann war langsam ein Lächeln auf seine Lippen
getreten. Sie empfand es als unangenehm, so im Zentrum seiner Aufmerksamkeit zu stehen, und hatte das Gefühl, irgendwie begutachtet zu werden, als würde er gerade eine Entscheidung über sie fällen.
    »Nein«, antwortete sie, »ich bin keine Studentin« und wurde rot, als hätte er sie bei irgend etwas Verbotenem ertappt, obwohl sie genau wußte, daß das nicht der Fall war. Sie wandte sich ab. Verlegen riß sie ein Stück Brot ab und warf es einer Ente hin. Fünf hatten sich vor ihr versammelt, Stockenten mit schimmernden grünen Köpfen, und nun rauften sie um das Brot. Sie warf ihnen den Rest hin und griff in die Tüte,
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