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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln
Autoren: L Reese
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diese Geschichte, weil ich muß. Ich spüre, daß ich keine Wahl habe: Sie ist zu meiner eigenen Obsession geworden. Wie Conrads Marlow, wie Coleridges alter Seemann bin ich gezwungen, diese Geschichte zu erzählen. Ich lerne gerade, daß Schriftsteller sich ihre Obsessionen nicht aussuchen; die Obsessionen suchen sie aus. Ich erzähle Frannys Geschichte, weil sie selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Ich erzähle ihre Geschichte, um die Wahrheit zu enthüllen und M. zu entlarven – um das zu tun, wozu die Polizei nicht fähig war. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, und M. muß die Verantwortung für die seinen übernehmen. Er hat Franny auf eine dunkle Reise mitgenommen, von der sie nie zurückgekehrt ist. Ich werde dieselbe Reise antreten, aber ich habe länger gelebt als meine Schwester, und selbst wenn ich nicht weiser bin als sie, bin ich doch wenigstens erfahrener. Diesmal wird die Reise anders enden, da bin ich mir sicher – für M. und für mich.

ERSTER TEIL
FRANNY

1
    Am letzten Tag des Monats Oktober wurde Frances Tibbs, während sie über das Unigelände radelte, klar, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt war.
    Zumindest glaubte sie, verliebt zu sein. Sie hatte es noch nicht laut ausgesprochen, die Worte noch nicht auf der Zunge getestet, aber es fühlte sich an wie Liebe: Alles erschien ihr frisch und neu und aufregend.
    Plötzlich trat ein Mann vor Franny auf den Weg und erschreckte sie fast zu Tode. Sie zog die Bremsen und wich ihm aus, kam gerade noch an ihm vorbei. Er hatte sich einen Nylonstrumpf über den Kopf gezogen. In der Rechten trug er einen riesigen Revolver, vielleicht auch ein Gewehr oder eine Schrotflinte. Franny kannte den Unterschied nicht, aber bei genauerem Hinsehen fand sie, daß sie Waffe nicht besonders echt aussah. Sie war kleiner, als sie sich ein Gewehr vorstellte, und schien aus Plastik zu sein.
    Plastik.
    Eine Spielzeugwaffe. Es war Halloween, fiel ihr ein. Der Mann – jetzt sah sie, daß es nur ein College-Student war – war offenbar zufrieden mit dem Schrecken, den er ihr eingejagt hatte. Anzüglich grinsend schulterte er sein Gewehr und trottete weiter.
    Mit dem Gefühl, sich zum Narren gemacht zu haben, stieg sie wieder auf ihr Rad und strampelte den Weg am nördlichen Arm des Putah Creek entlang. Hier, in seinem eingedämmten
nördlichen Teil, führte der Flußarm nur wenig Wasser. Es war brackig, hatte eine ungute grüne Farbe und verströmte einen abgestandenen, modrigen Geruch, den sie nur zu gern hinter sich ließ. Hatte man erst einmal das oberste Ende des Flußarmes erreicht, wurde der Weg sehr angenehm. Zu beiden Seiten war er von Bäumen und dichter, dunkelgrüner Vegetation gesäumt, und die Luft war von erdigen, hölzernen Gerüchen erfüllt. Sie radelte in der Hoffnung hier heraus, ihren neuen Freund Michael zu treffen. Sie hätte nicht erklären können, was genau sie zu ihm hinzog. Sie wußte nur, daß sie ständig an ihn dachte und daß ihr ihr Leben irgendwie ein wenig heller vorkam, seit sie ihn getroffen hatte, als stünden ihr plötzlich mehr Möglichkeiten offen. In gewisser Weise erinnerte er sie an ihren Vater, einen geduldigen, ruhigen Mann, von dem sie gewußt hatte, daß er sie beschützen würde. Es war schon so lange her, daß ihre Eltern gestorben waren, und obwohl sie eine Schwester hatte, fühlte sie sich allein auf der Welt. Aber Michael hatte eine so einfühlsame Art, sie anzusehen, als könnte er mit einem einzigen Blick ihre ganze Geschichte erfassen. Es war ein schönes Gefühl.
    Sie hatte eine Stelle erreicht, wo es abwärts ging, und beschleunigte. Radfahren war Teil ihres neuen Diätplans. Sie hatte mehrere Lieblingsstrecken: den Weg zwischen den Solarhäusern im Westteil von Davis hindurch, den Howard-Reese-Fahrradweg entlang des Russell Boulevard bis hinaus nach Cactus Corners und die Strecke, auf der sie sich gerade befand und die sie am häufigsten fuhr, den Weg, der am südlichen Rand des Unigeländes entlang des Putah Creek verlief. Der Pfad war schmal und schlängelte sich durch die Baumschule der Uni, eine waldige Enklave aus Büschen und Bäumen, hauptsächlich Mammutbäume, Koniferen und Eukalyptus. Franny liebte diesen Ort. Unter den Bäumen waren Picknicktische versteckt, auf dem Boden lagen Holzspäne und heruntergefallenes Laub, das sich allmählich zersetzte, und
der Geruch, der in der Luft hing, war ein sehr alter; er erinnerte sie an
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