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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln
Autoren: L Reese
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als Folge eines schiefgegangenen Vererbungsprozesses? Existiert es in manchen Männern so ausgeprägt, daß es ein fester Bestandteil ihres Wesens ist? Die Antworten auf diese Fragen weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß manche Männer, sei es durch ihre Erbanlagen, sei es durch ihre Erziehung, tatsächlich böse sind, und diese Geschichte, Frannys Geschichte, handelt von dem Leid, das ein solcher Mann verursacht hat.
    Böse Menschen sind nicht an ihrer schwarzen Kleidung zu erkennen, und sie werfen auch keinen Halbschatten unheilvollen Dämmerlichts. Sie sind von den Leuten im Nebenhaus
nicht zu unterscheiden. M. lehrt immer noch an der UCD, der University of California in Davis. Ich sehe ihn in Begleitung anderer Frauen, junger und alter. Er sagt etwas, und sie lächeln oder lachen. Er sieht harmlos aus, nicht wie ein Mensch, der eines Mordes fähig wäre. Trotzdem gelange ich, wenn ich das Tagebuch meiner Schwester lese, immer wieder zu der Erkenntnis, daß er ein böser Mann ist, ein Mann ohne Gewissen oder Seele. Er hat Franny zerstört, und zwar absichtlich und ohne Gewissensbisse. Sie war gefesselt und gefoltert worden, und trotzdem konnte der zuständige Gerichtsmediziner die genaue Todesursache nicht feststellen. Woran sie letztendlich gestorben ist, bleibt bis heute ein Rätsel.
    Ich beginne diese Geschichte, ohne zu wissen, wie sie enden wird. Ich werde versuchen, mich an Frannys Tagebuch zu halten und die Ereignisse in der Reihenfolge aufzuzeichnen, in der sie sie in ihren Computer eingegeben hat. Aber in ihren Eintragungen gibt es große Lücken; sie hat Einzelheiten ausgelassen, Details, die ihren Mörder zur Strecke bringen würden. Das alles werde ich mir bei Michael M. holen müssen. Natürlich habe ich ihn schon gesehen, habe den Mann aus der Ferne beobachtet. Und bevor ich meine Geschichte beende, werde ich Kontakt mit ihm aufnehmen und ihn ziemlich gut kennenlernen.
    Nach dem Tod meiner Schwester bin ich nach Davis zurückgekehrt. Da ich etwas Geld gespart hatte, war ich in der Lage, mich bei der Zeitung für längere Zeit beurlauben zu lassen; trotzdem schreibe ich noch gelegentlich als freie Mitarbeiterin einen Artikel für sie. Ich bin gerade dabei, im südlichen Teil der Stadt ein Haus zu mieten, in einem Viertel, das als Willowbank bekannt ist. M. lebt auch hier in Willowbank, im älteren Teil, wo die Häuser groß und weitläufig sind und die Bäume einen Baldachin über den Straßen bilden und während unserer heißen, trockenen Sommer angenehmen
Schatten spenden; wo es keine Gehsteige gibt und kaum Zäune, abgesehen von ein paar niedrigen, freundlichen Holzzäunen, die mehr aus ästhetischen Gründen als zum Schutz errichtet wurden. Ich bin hierhergezogen, um näher bei M. zu sein, um mir selbst ein Bild von ihm zu machen.
    Immer wieder lese ich Frannys Tagebuch. Es beginnt so hoffnungsvoll, mit einer subtilen Ironie, von der ich gar nicht wußte, daß sie sie besaß:
    Ich habe das Gefühl, demnächst eine Reise anzutreten. Etwas Wundervolles und Aufregendes geschieht mit mir. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, und das verdanke ich alles Michael. Er sieht Dinge in mir, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat; er läßt mich Dinge fühlen, die ich noch nie zuvor gefühlt habe. Ich bin dabei, mich zu verändern, soviel steht fest. Ich wünsche mir so sehr, aus meinem trägen, sicheren Leben herauszutreten und mich meinen Träumen zu stellen, meine Leidenschaften freizulassen. Ich möchte mich in Michaels Gewalt begeben, die Zügel ganz ihm überlassen. Gestern abend hat er versprochen, mir Orte zu zeigen, an denen ich noch nie gewesen bin. Ich habe zu ihm gesagt: »Die Galápagos-Inseln? Hawaii?«, aber ich wußte, daß er es nicht geographisch meinte. Oh, Michael! Ich habe nie gewagt, von jemandem wie dir zu träumen. Ich dachte, du wärst unerreichbar für mich, aber jetzt stelle ich fest, daß deine Fingerspitzen die meinen berühren.
    Was für ein unschuldiger Anfang, voll nackter Hoffnung und Freude. Ihre Reise sollte nicht so unschuldig werden.
    Sie begann wie ein Traum – Frannys Beschreibungen ihrer ersten sexuellen Begegnungen mit M. sind mit einem Romantizismus eingefärbt, der etwas fast Traumartiges, märchenhaft Idyllisches hat –, und sie endete als Alptraum, als langsamer Abstieg in das schwarze Herz eines bösen, sadistischen Mannes,
als eine Reise in die Hölle, aus der es keine Rückkehr gab.
    Deshalb widme ich diese Geschichte Franny, ihrem Andenken. Ich schreibe
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