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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln
Autoren: L Reese
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ihr Herz ab und trug hin und wieder etwas in das Überwachungsblatt ein, das auf ihrem Klemmbrett befestigt war. Sie blickte auf. Ihr Blick wanderte über Mrs. Deevers Sessel hinweg. Die Fensterreihe in der gegenüberliegenden Wand war mit Jalousien verdunkelt. Draußen scheuchte ein scharfer Nordwind die Wolken über den Himmel. Als Franny auf dem Weg zur Arbeit den Yolo Causeway überquert hatte, hatte sich der Wind mit voller Wucht gegen ihren Wagen gestemmt, und in der Ferne hatte sie die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada aufragen sehen. Vielleicht konnte sie Michael dazu bringen, am Wochenende mit ihr hinzufahren.
    »Ganz schön kalt heute, was?« meinte Mrs. Deever, während sie Franny beobachtete. »Ich wette, du bist in Gedanken bei deinem neuen Freund.«

    Franny sah zu ihr hinunter und lächelte. Mrs. Deever hatte schulterlanges, strohfarbenes Haar, das sie nach jedem Waschen auf Wickler drehte, obwohl die Spitzen bereits dünn und brüchig wurden. Und sie trug wie immer Make-up: einen knallroten Lippenstift, Puder, um ihre fleckige Haut abzudecken, sorgfältig aufgetragenen Lidschatten und Wimperntusche. Sie war eine Frau, die versuchte, sich nicht unterkriegen zu lassen, auch wenn ihr Körper nicht mehr mitspielte. Ihr Gesicht wirkte trotz der Hamsterbacken und des schweren Doppelkinns offen und freundlich. Franny und sie waren einander im Lauf der letzten zwei Jahre sehr nahegekommen, und Franny sah sie nicht nur hier, sondern besuchte sie auch regelmäßig im Pflegeheim. Mrs. Deever, deren eigene Kinder beide in einem anderen Bundesstaat lebten, legte eine fast mütterliche Sorge um Franny an den Tag. Voller Mitgefühl hörte sie zu, wenn Franny ein Problem hatte, und erteilte ihr gute Ratschläge, egal, ob Franny sie darum bat oder nicht. Franny wußte, daß ihre enge Beziehung auf ihrer beider Einsamkeit beruhte, aber das spielte keine Rolle. Mrs. Deevers Gegenwart erinnerte sie daran, wie sehr sie ihre eigene Mutter vermißte; und sie wußte, daß Mrs. Deever ihre Kinder vermißte.
    »Sie haben recht«, antwortete Franny lächelnd. »Ich habe gerade an ihn gedacht.« Über ihrem blauen Kittel trug sie eine Plastikschürze. Zusätzlich hatte sie einen transparenten Gesichtsschutz und Gummihandschuhe übergezogen. Diese Ausstattung trugen alle Techniker und Schwestern, um sich beim Anschließen der Patienten vor Blutspritzern zu schützen. Franny öffnete den Shunt an Mrs. Deevers Unterarm, eine künstliche Verbindung zwischen Arterie und Vene. Die meisten Patienten hatten so einen Shunt am Arm, aber einige, von denen im Moment niemand da war, vertrugen keinen normalen Shunt und mußten sich einen sogenannten zentralen Venenkatheter in die Subklavia-Vene unterhalb des Schlüsselbeins
legen lassen. Franny befestigte zwei Nadeln in dem Shunt und verband dann den Schlauch, der von den Nadeln wegführte, mit der Dialysemaschine, die das arterielle Blut herauspumpen, filtern und dann durch die Vene zurückleiten würde.
    »Hat er dich letztes Wochenende schön ausgeführt?« fragte Mrs. Deever.
    »Ja«, antwortete Franny. »Wir sind ins Napa Valley gefahren und haben dort übernachtet.«
    »Napa? Wart ihr bei einer Weinprobe?«
    Franny nickte. »Wir waren in mehreren Weinkellereien. Ich kann mich gar nicht mehr an alle Namen erinnern. Und zum Abendessen hat er mich in ein wirklich schönes französisches Restaurant ausgeführt. Das Essen war phantastisch.« Sie maß erneut den Blutdruck ihrer Patientin. Während die Behandlung lief, machte sie das regelmäßig jede halbe Stunde. Nebenbei erzählte sie Mrs. Deever alles über den Ausflug, fügte so viele Details wie möglich hinzu, berichtete von der bezaubernden Frühstückspension, in der sie am Samstag abend übernachtet hatten, von den Weingläsern, die er ihr als Andenken gekauft hatte, vom intensiven Geruch des reifenden Weins.
    Natürlich war das alles gelogen. Franny wäre es peinlich gewesen zuzugeben, daß Michael sie nie irgendwohin ausführte. Sie trafen sich nun schon fast einen Monat, aber er war noch nie mit ihr ausgegangen. Er hatte an der UCD mit seinen Kursen und Studenten viel zu tun und arbeitete darüber hinaus an seiner eigenen Musik und verschiedenen Aufsätzen. Bei alldem schien ihm kaum Zeit für Franny zu bleiben. Sie sah ein, daß er ein vielbeschäftigter Mann war, und sie wollte auch nicht klagen, aber sie hätte sich gewünscht, gelegentlich von ihm ausgeführt zu werden, vielleicht ins Kino oder zum Essen. Wenn sie sich
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