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Breit - Mein Leben als Kiffer

Breit - Mein Leben als Kiffer

Titel: Breit - Mein Leben als Kiffer
Autoren: Amon Barth
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arbeiten müssen, die nicht aus
    reichem Hause stammen, sondern irgendwo auf
    der Welt für einen Witzlohn schuften.
    Mein Gehirn sucht nach Beweisen für die
    Nichtexistenz von Armut, Krankheit, Gewalt und
    Tod. Weil es aber keine greifbaren findet,
    flüchtet es sich weiter in die Welt von
    Spekulationen und steigt mit mir in eine der S-
    Bahnen, die gerade einfährt. Zeit und Raum
    spielen keine Rolle mehr für mich;
    wahrscheinlich bin ich deshalb überzeugt, dass
    mich jede S-Bahn nach Övelgönne bringen
    kann.
    - 259 -

    Die Türen schließen sich automatisch, und ich
    zucke zusammen, als sie zuknallen. Die
    zerkratzten Fensterscheiben verstärken das
    Gefühl der Beklemmung. In der S-Bahn sitzen
    ein farbiges Pärchen und fünf dünne Araber.
    Plötzlich die Gewissheit, dass ich noch lange mit
    diesen Menschen hier sein muss. Als wären wir
    gezwungen, gemeinsam ein Ziel, einen
    kollektiven Bestimmungsort zu erreichen.
    Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase,
    wie Gas oder Schwefel. Angst. Ich muss hier
    raus, sonst wird mir etwas Schreckliches
    passieren, das spüre ich. Ich beschließe, an der
    nächsten Haltestelle auszusteigen. Einer der
    Araber und auch das Pärchen schauen mich
    entsetzt an, als wüssten sie, dass ich einfach
    nur der spontanen Idee folge, beim nächsten
    Halt auszusteigen. Ich lese den Stationsnamen:
    Veddel, Rothenburgsort. Völlig orientierungslos,
    aber überzeugt denke ich: Ach super, das ist ja
    nicht weit weg von Övelgönne. Ich kann von
    dort aus über die Elbe und bin dann bald bei
    Silke. Was sie wohl sagen wird?
    Am Ausgang der S-Bahn-Haltestelle sehe ich
    ein Schild mit der Aufschrift «Hygienezentrum»,
    was für mich absolut zu dem beißenden Geruch
    passt. Das Wort erinnert mich an die
    Grausamkeiten der Nazis im Dritten Reich. Ich
    gehe über eine große Eisenbahnbrücke. Halb
    bewusst denke ich an die Graffitigeschichten
    aus den Rapsongs. Es kann gut sein, dass unter
    - 260 -

    mir, neben und auf den Bahngleisen dutzende
    Mitglieder einer Jugendbande im Dunkeln
    kauern und sich wie die Gefährten von Peter
    Pan über Pfiffe verständigen. Schon lange von
    zu Hause geflohen, ziehen sie nun durch die
    Elbgebiete auf der Suche nach Leuten wie mir,
    die sie beobachten, auf die Probe stellen und
    danach entweder in die Gruppe aufnehmen
    oder ausrauben können.
    Es zieht mich nach unten auf die Bahngleise,
    aber ich gehe aus Furcht und getrieben von
    dem Wunsch, mein Ziel zu erreichen, weiter.
    Am Ende der nächsten Straße sehe ich einen
    Park. Ich umklammere mein rotes
    Glasdidgeridoo, das ich auf meine Reise
    mitgenommen habe, und schlendere langsam
    weiter. Die beleuchteten Wohnungen in den
    Häusern zu meiner Rechten sind für mich die
    Wohnungen der Geister der Toten aus den
    Konzentrationslagern. Vielleicht verbringen dort
    die Opfer oder die Kinder der Opfer ihr Leben in
    Verdauung des Schreckens. Vielleicht fristen
    hier die Täter der nationalsozialistischen
    Tötungsmaschinerie auch ihren Lebensabend.
    Selten zuvor habe ich solche Angst
    empfunden, denn von den Fenstern und den
    dahinter vermuteten Menschen geht etwas
    unglaublich Schwermütiges und gleichzeitig
    Bedrohliches aus. Auf der Hälfte des Weges
    kehre ich um, denn ich habe mit einem Mal
    Angst, dass am Ende der Straße Schläger
    - 261 -

    lauern, die nur darauf warten, mich
    umzubringen. Und gegen die ich sogar mit
    meinem Glasdidgeridoo nichts würde ausrichten
    können. Die Kühle der Nachtluft, die
    normalerweise auf der Haut bleibt, dringt tief in
    mein Herz und in meine Seele. Todesangst. Ich
    muss zu Silke. Der nächste Weg nach links, wo
    ich die Elbe vermute, führt mich durch ein
    Labyrinth aus verschlungenen Pfaden, vorbei an
    Schrebergärten, einem Dickicht aus Bäumen
    und Sträuchern. Als ich an einem Sportplatz
    vorbeikomme, glaube ich aus dem beleuchteten
    Clubhaus Stimmen zu hören.
    «Ja, jetzt weiß er auch nicht mehr weiter.»
    «Doch, doch, er wird den Weg schon finden.»
    «Er denkt, es kann nicht sein, dass wir ihn
    von hier aus sehen.»
    Vielleicht ist das hier ein militärisches
    Testareal oder ein geheimes Forschungslabor.
    Ich fürchte mich. Auch wenn ich irgendwo ganz
    tief drinnen weiß, dass die Stimmen nur
    Einbildung sind und ich keine Angst haben
    muss. Aber ich kann nichts tun. Ich bin in zwei
    Persönlichkeiten gespalten: Auf der einen Seite
    bin ich vollkommen passiv, nehme die Dinge
    nur noch wahr, ohne zu lenken und
    einzugreifen, toleriere alles. Die andere
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