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Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel
Autoren: Brigitte Blobel
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Geräusch war hinter ihm, in seinem Rücken.
    Im Laufen drehte er sich um.
    Er sah den Zug. Klein und grau. Noch weit genug entfernt. Aber wie weit?
    Er war nicht sicher, ob der Zugführer ihn sehen konnte hier
auf den Gleisen. Und entdeckte er das leuchtende, blonde Haar? Wohl kaum.
    Aslan wollte sich größer machen, lief jetzt mit erhobenen Armen, damit er besser auszumachen war; er konnte nicht auf der sicheren Böschung laufen, sie war verwildert, da wäre er nicht vorangekommen, er musste auf den Gleisen bleiben, von Bohle zu Bohle springen, wie ein Tier gehetzt, denn hinter ihm war der Zug.
    Das Mädchen bewegte sich nicht.
    Jetzt, wo Aslan näher kam, sah er, dass sie Bermudas trug, er sah ihre hellen Beine. Ihr Kopf lag auf der Schiene und das Haar drum herum.
    Sie regte sich nicht. Lag ganz still.
    Hinter ihm das helle Sirren des Zuges. Aslan wirbelte herum, fuchtelte mit den Armen, schrie: »Nein! Nein!«, und rannte weiter, rannte, rannte.
    Es waren noch ein Dutzend Schritte, aber ein Dutzend Schritte sind eine endlose Größe, wenn hinter einem ein Zug heranrast und vor einem auf den Schienen ein Mensch liegt, der sterben will.
    Wieder das Signal der Lokomotive, wieder riss Aslan die Arme hoch, und dann hatte er das Mädchen erreicht.
    Sie hob nicht den Kopf.
    Sie tat absolut nichts. Sie lag da wie tot.
    Aslan erzitterte bis tief in sein Herz.

    Jetzt ist er bei ihr.
    Jetzt packt er sie unter den Achseln, zerrt sie hoch, schreit. »Ein Zug! Ein Zug!«
    Und schleift sie, die schwer ist, so schwer, von den Schienen und wirft sie einfach den Hang hinunter und sich selbst gleich hinterher.

    Und wirft sich schützend über sie und spürt ihre eiskalte Haut.
    Sekunden später donnert ein Güterzug an ihnen vorbei.
    Aslan richtet sich keuchend auf.

    Auch das Mädchen hob nun den Kopf und schaute ihn an.
    Jetzt sah Aslan, dass sie fast schon eine junge Frau war. Er schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn.
    »Der Zug hätte dich überrollt!«, schrie er. »Du wärst tot gewesen!«
    Er packte ihre Schultern, er schüttelte sie, die Angst, die er sich vorher nicht gestattet hatte, brach jetzt aus ihm heraus. Er hätte das Mädchen am liebsten geohrfeigt, weil sie sich und ihn in Lebensgefahr gebracht hatte.
    Das Mädchen ließ alles mit sich geschehen.
    »Warum hast du das gemacht?«, schrie Aslan.
    Sie schaute ihn an, schaute zum Bahndamm hoch und biss sich auf die Lippen, bis Blut kam.
    »Warum wolltest du dich umbringen?« Wieder schrie Aslan es.
    Das Mädchen schwieg. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper, als habe sie Schüttelfrost. Ihre Zähne schlugen aufeinander.
    Aslan wartete, bis sein Herz langsamer schlug, bis er ruhiger wurde.
    So hat es keinen Zweck, dachte er. Ich muss sanfter mit ihr reden.
    »Ich heiße Aslan«, sagte er. »Ich bin hier, weil mein Sohn seinen Schulranzen aus dem Zug geworfen hat. Kann man sich so etwas vorstellen? Ausgerechnet heute wirft mein Sohn seinen Schulranzen aus dem Zug und ich laufe die Gleise ab und finde dich. Eine Sekunde bevor der Zug kommt! Allah wollte nicht, dass du stirbst. Allah hat meinen Sohn Mehmet dafür ausgewählt,
das zu verhindern. Mein wunderbarer Sohn Mehmet hat dir das Leben gerettet! Muss ich auf solch einen Sohn nicht stolz sein?«
    Das Mädchen sah ihm in die Augen. Aslan lächelte. Er hätte das Mädchen am liebsten geküsst, weil er auf einmal so glücklich war, so dankbar. Er würde, wenn er nach Hause käme, erst seine Frau in die Arme nehmen und dann seinen Sohn, und dann würde er in die Moschee gehen und beten und Allah danken für das Geschenk, das er ihm, Aslan, gemacht hat. Allah hat sich ihm gezeigt.
    Das Mädchen fuhr mit den Fingern über die Schrammen am Knie und an den Armen. Sie hatte im Sturz ihren linken Schuh verloren. Als sie ihn entdeckte, stand sie auf und zog ihn an.
    »Wo wohnst du?«, fragte Aslan. »Wohin wollen wir gehen? Vielleicht zu einem Arzt?«
    Das Mädchen setzte sich schweigend neben ihn, schlug ihre langen Haare vor das Gesicht und begann, das Moos, die kleinen dornigen Zweige und Grashalme, die sich im Sturz darin verfangen hatten, herauszuziehen.
    »Wie heißt du?«, fragte Aslan.
    Sie war weiter damit beschäftigt, ihre Haare zu säubern. Als habe sie seine Frage nicht gehört, sagte sie: »Ich brauch einen Kamm. Hast du einen Kamm?«
    Aslan nickte. »Ja, ich hab einen Kamm. Aber den geb ich dir erst, wenn du mir deinen Namen gesagt hast.«
    Sie teilte die Haare in der Mitte, dass er wieder ihre Augen sehen
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