Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel
Autoren: Brigitte Blobel
Vom Netzwerk:
Aber er entsprach nicht dem Klischeebild, das er bot, er war ein netter Typ. Zwischen der Wurst- und der Fleischabteilung, hinter den Tresen, war die breite zweiflügelige Tür, die zu den Kühlräumen und ins Lager führte. Meine Mutter ist, wenn kein Kunde in Sicht war, oft mal durch das Lager nach draußen entwischt, für eine kurze Pause.
    Aber an diesem Tag war so viel los, dass an eine Pause zwischendurch gar nicht zu denken war.
    Komisch, dass ich das alles noch so wie einen Film vor mir sehe: Mama hatte sich als Pirat verkleidet, mit einer schwarzen Klappe über dem rechten Auge. Dazu eine weiße Perücke und ganz viele Sommersprossen auf der Nase und ein rotweiß geringeltes T-Shirt. Sie sah witzig aus. Als ich bei ihr auftauchte, hielt sie gerade eine gewaltige Mortadellawurst in der Hand und fragte die Kundin, wie dick sie die Scheiben wollte. An der Wursttheke trug Mama immer Handschuhe aus ganz dünnem Plastik, weil das hygienischer war. Die Kundin zeigte mit Daumen und Zeigefinger, wie die Scheiben sein sollten, und erklärte auch, wofür. »Cocktailhäppchen, mit einer halben Weintraube und Käsewürfeln, auf Zahnstochern.« Ich dachte, so etwas wäre im vorletzten Jahrhundert Mode gewesen. Aber meine Mama verzog keine
Miene, sondern stellte die Maschine ein. Sie hatte mich zwar gesehen, ich stand keuchend und zitternd vor Aufregung an der Theke, aber sie beachtete mich einfach nicht. Der Kunde geht vor, das wusste ich, das hatte sie mir von Anfang an eingebläut. »Ganz egal, und wenn bei uns die Wohnung brennt …«
    Aber das war mir an diesem Tag gleich. »Mama! Du glaubst nicht, was passiert ist!«, rief ich.
    Meine Mutter schob die dicke Wurst an dem Schneideblatt vorbei und hielt die erste Scheibe hoch. Die Kundin nickte.
    »Hast du im Lotto gewonnen?«, fragte eine andere Kundin. Alles lachte.
    Ich war empört. »Ich spiel doch kein Lotto!«
    »Dann wirst du auch nie reich«, meinte die Kundin fröhlich.
    Wieder lachten alle.
    »Vielleicht doch!«, sagte ich trotzig. Mein Selbstbewusstsein wuchs ins Unermessliche.
    »Mama«, rief ich, »ich darf aufs Gymnasium wechseln!«
    Ich sah, wie meine Mutter mitten in der Bewegung innehielt, wie alle Gesichter der Kunden sich zu mir herumwandten, ihre hellen runden Gesichter, manche mit Lippenstift, manche mit Brillen, in denen die Leuchtstrahler an der Decke des Supermarktes sich spiegelten.
    Ich holte tief Luft. Es war wunderbar, im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen. Das war mir noch nicht oft passiert. Ich wollte den Moment noch ein bisschen genießen, ihn hinauszögern. »Und weißt du, was noch besser ist?«, rief ich. »Es wird der Erlenhof sein. Ich bekomme ein Stipendium als externe Schülerin. Lernen werde ich dort und wohnen wie bisher bei uns zu Hause!«

    Die Wurst rutschte meiner Mutter aus der Hand, fiel aber Gott sei Dank nicht auf den Boden, sondern zurück auf die Theke.
    Mama zog ganz langsam ihre Plastikhandschuhe aus. Dann nahm sie die Klappe über ihrem Auge ab. Offenbar war es heiß dahinter, denn die Wimperntusche war ganz verschmiert, es sah aus wie ein blaues Auge, als hätte jemand ihr ein Veilchen verpasst.
    »Der Erlenhof? Die Schule am Langen See?«, fragte eine der Kundinnen. Ich hörte aus ihrer Stimme so etwas wie Respekt.
    »Ist das wahr? Du machst keine Witze? Vielleicht, weil Fasching ist?« Meine Mutter wollte es einfach nicht glauben.
    Ich lachte, nickte, schüttelte den Kopf. »Keine Witze. Alles wahr!« Ich verschluckte mich, ich hustete, ich lachte wieder. »Ja! Meine Direktorin, Frau Feddersen, lädt dich und Papusch zu einem Gespräch ein! Am besten schon morgen! Ich hab gesagt, du hast mittwochs immer frei. Mama! Ich kann sofort auf die andere Schule wechseln, wenn ihr es erlaubt! Das viele Lernen hat sich gelohnt!«
    Da sah ich meine Mutter, die immer so ernst gewesen war in der letzten Zeit, zum ersten Mal wieder lächeln. Und ich sah, wie schön sie eigentlich war, meine Mama, mit ihren großen weißen Zähnen.
    Und ich fand ihren russischen Dialekt, den sie nie ablegen würde, auch in hundert Jahren nicht, ganz großartig, als sie vor allen Kunden sagte: »Siehst du, was ich immer gesagt hab? Gott schaut auf uns herab.« Meine Mutter strahlte noch einmal in die Runde, setzte die Augenklappe wieder auf, zog die Plastikhandschuhe über ihre Finger und schnitt weiter dicke Mortadellascheiben.

    Ich liebte meine Mammutschka in der Sekunde mehr, als ich sie je vorher geliebt hatte.

    Am nächsten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher