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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen
Autoren: Amélie Nothomb
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genauerer Betrachtung war »sympathisch« nicht unbedingt eine Eigenschaft, die zu Christa paßte. Ich verlor mich in haltlosen Spekulationen.
     
    Am Sonntagabend kam die verlorene Tochter zurück. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie von nichts wußte. Es war mir entsetzlich peinlich, als sie uns mit dem gewohnten Überschwang begrüßte.
    Diesmal gab es keinen Festschmaus. Wir setzten uns sofort zu Tisch.
    »Wir haben mit deinem Vater gesprochen, Christa. Warum hast du uns angelogen?« fragte Papa sie ernst.
    Christa erstarrte. Und schwieg.
    »Warum hast du uns diese Geschichten erzählt?« bohrte mein Vater freundlich nach.
    »Geht’s euch um das Geld?« stieß sie verächtlich hervor.
    »Es geht uns um die Wahrheit.«
    »Die kennt ihr ja jetzt. Was wollt ihr denn noch?«
    »Wir wollen wissen, warum du uns angelogen hast.«
    »Wegen dem Geld«, schnauzte sie.
    »Nein. Das Geld hättest du auch anders bekommen können. Warum also?«
    »Ihr schnüffelt hinterrücks in meinen Angelegenheiten herum? Und ich habe euch vertraut!« empörte sich Christa. Sie hatte sich anscheinend für eine Strategie à la Marquise von O … entschieden; in ihrem Fall war das schäbig.
    »Spiel hier nicht die verfolgte Unschuld!«
    »Wenn man jemanden liebt, vertraut man ihm rückhaltlos!«
    »Genau darum geht es. Deshalb sollst du uns ja erklären, warum du uns belogen hast.«
    »Ihr habt gar nichts begriffen!« tobte sie. »Rückhaltloses Vertrauen heißt, keine Erklärungen zu fordern.«
    »Es freut uns, daß du Kleist gelesen hast«, erwiderte mein Vater. »Doch wir sind nicht so fein wie du, wir haben ein Bedürfnis nach ergänzenden Erläuterungen.«
    Ich bewunderte seine Kaltblütigkeit. So hatte ich ihn noch nie reden gehört.
    »Drei gegen eine ist unfair!«
    »So geht es mir, seit du hier bist«, gab ich der Märtyrerin zu bedenken.
    »Ach, du nun wieder!« fuhr sie mich an wie Cäsar den Verräter Brutus an den Iden des März. »Ich dachte, du bist meine Freundin! Du solltest mir dankbar sein!«
    Was mich an ihr verblüffte, war dieser Ausdruck von Aufrichtigkeit. Sie war von dem, was sie sagte, offensichtlich überzeugt. Mir wären viele Antworten darauf eingefallen, aber ich zog es vor, diese Zumutungen zu übergehen. Sollte sie sich doch um Kopf und Kragen reden! So ließ ich sie in ihr Verderben laufen, und dieses Schauspiel war am besten schweigend zu genießen.
    »Wenn du uns deine Lügen nicht erklären kannst, leidest du vielleicht an Mythomanie«, sagte mein Vater sanft. »Das ist ziemlich häufig, ein krankhafter Zwang zu lügen, man kann gar nicht anders …«
    »Blabla«, fauchte Christa.
    Verblüffend, wie falsch sie es anging! Ob ihr das bewußt war? Sie hätte ein leichtes Spiel haben können. Statt dessen verbohrte sie sich in ihre Aggression, und das war die dümmste aller Strategien. Mein Vater hing so an ihr, daß er ihr noch die unwahrscheinlichsten Gründe abgenommen hätte. Doch sie brach ohne Not alle Brücken hinter sich ab.
    Meine Mutter hatte seit Beginn der Auseinandersetzung noch kein Wort gesagt. Sie sah Christa nur bestürzt an. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, was in ihrem Kopf vorging: Wie auf einem doppelt belichteten Foto hatte sich Detlevs Ferkelvisage über Christas Gesicht gelegt.
    In einem letzten Wutanfall schrie Christa uns an: »Ihr seid doch alle bescheuert, ihr verdient mich überhaupt nicht! Pech für euch! Wer mich liebt, der folge mir!«
    Niemand folgte ihr, als sie in meinem Zimmer verschwand.
     
    Eine halbe Stunde später hatte sie ihre Sachen gepackt. Wir saßen noch genauso da wie vorher.
    »Jetzt habt ihr mich endgültig verloren!« schrie Christa.
    Und knallte die Wohnungstür zu.

 
     
     
     
    M ein Vater faßte den Stand der Dinge zusammen.
    »Sie hat uns nichts erklärt«, sagte er. »Wir sollten sie nicht verurteilen, es bleiben zu viele Zweifel. Wir kennen ihre Beweggründe nicht und sollten deshalb nichts Schlechtes über sie sagen.«
    Von da an sprachen wir nicht mehr von ihr.
     
    Christa ging weiterhin zu den Vorlesungen, wo ich sie hochmütig ignorierte.
    Eines Tages sprach sie mich an, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß uns niemand sah.
    »Detlev und das Mädchen haben es mir erzählt: Du hast mich ausspioniert.«
    Ich sah sie kalt an und blieb stumm.
    »Du hast mir Gewalt angetan, du bist in mein Privatleben eingedrungen, verstehst du?«
    Immer dieses »Verstehst du«!
    Ich schwieg und lächelte.
    Sie zieh mich der Gewalt? Sie, die mir die
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