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Böser Engel

Böser Engel

Titel: Böser Engel
Autoren: Timothy Carter
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so steht es in der Bibel«, rief meine Mutter und klang fast schon hysterisch. »Zumindest hat Mrs. Farmson mir das erzählt. Das stimmt doch, Cheryl, oder?«
    »So steht es geschrieben«, sagte Mrs. Farmson und hielt mit einer theatralischen Geste die Taschenbuchausgabe des Neuen Testaments in die Höhe. Im Grunde war das lächerlich, da die Geschichte des Onan im Alten Testament steht. »Wir haben heute Morgen in der Gruppe darüber gesprochen, Father Reedy. Gottes Worte lassen hier keinen Zweifel zu. Ich bin erstaunt, dass Ihnen das nicht klar ist.«
    »Verstehe«, entgegnete Father Reedy, der die Beleidigung offenbar auf die leichte Schulter nahm. »Wenn uns die beiden Damen jetzt bitte entschuldigen würden. Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich mit Stuart unter vier Augen spreche.«
    »Wie Sie meinen«, gab Mom zurück und verließ gemeinsam mit Mrs. Farmson den Raum. Besonders weit kamen die beiden jedoch nicht. Sie lehnten die Tür hinter sich an, blieben dahinter stehen und lauschten.
    »Wären die Damen vielleicht so nett, uns einen Tee zu machen?«, meinte Father Reedy und wedelte unmissverständlich mit der Hand. »Und gegen ein paar Sandwiches hätte ich auch nichts einzuwenden.«
    Wie aufs Stichwort drehten sie sich um und gingen in die Küche, aus der kurze Zeit später das Klappern von Geschirr drang.
    »Damit wären die beiden erst mal eine Weile beschäftigt, und wir können in Ruhe reden«, sagte Father Reedy. »Man könnte fast denken, dass die Leute ein mulmiges Gefühl dabei haben, wenn sie einen Jungen mit einem Priester alleine lassen.«
    Meine Kinnlade setzte zum Sturzflug an, und meine Augen wurden tellergroß. Father Reedy war ein ziemlich cooler Typ, aber ich hätte nie gedacht, dass er zu solchen Witzen fähig wäre.
    »Du kannst den Mund wieder zumachen«, fuhr er fort. »Wenn ich keine Scherze darüber machen darf, wer dann? Okay, lass uns noch mal über die Sache mit Onan sprechen. Ich vermute, dass du dieses Thema lieber fallenlassen würdest, wenn du die Wahl hättest. Das Ganze ist dir bestimmt unangenehm und peinlich, und ich kann dich gut verstehen. Anders als andere Gemeindemitglieder bin ich nämlich selbst mal ein Teenager gewesen.«
    Ich musste lachen. Vermutlich hatte er genau das bezweckt.
    »Ehe wir loslegen, möchte ich dir eine wichtige Frage stellen, Stuart«, erklärte Father Reedy und behielt dabei die Wohnzimmertür fest im Auge. »Hat Mrs. Farmson euch die gesamte Geschichte vorgelesen oder lediglich die Passage, in der Onan seinen Samen vergießt?«
    »Nur den Teil mit dem Samen«, antwortete ich. »Und wie Gott über ihn gerichtet hat.«
    »Verstehe«, meinte Reedy. »Interessiert es dich, worum es in der Geschichte wirklich geht?«
    »Ja«, gab ich zurück.
    »Onans Bruder war gestorben, ohne einen Erben hinterlassen zu haben«, erklärte Father Reedy mir. »Gemäß den damaligen Ehegesetzen war es Onans Pflicht, die Witwe seines Bruders zu heiraten, weil sie noch kinderlos war. Der erstgeborene Sohn aus dieser neuen Verbindung wäre als rechtmäßiger Nachkomme des Verstorbenen angesehen worden. Ihm wäre dann automatisch das Familienerbe zugefallen. Mit anderen Worten: Onan wäre leer ausgegangen.«
    »Das ist ja krass«, sagte ich.
    »Onan hielt sich an die Gesetze und heiratete Tamar, die Frau seines verstorbenen Bruders«, fuhr Father Reedy fort. »In der Hochzeitsnacht, beim Beischlaf, hat Onan dann … Wie soll ich es ausdrücken? Er hat im kritischen Moment einen Rückzieher gemacht und …«
    »Und sich über den Boden ergossen«, beendete ich seinen Satz.
    »Genau«, sagte Father Reedy. »Die Sünde bestand also nicht darin, dass er sich selbst befriedigt oder seinen Samen sinnlos verschwendet hatte. Vielmehr war sein Vergehen, dass er mit voller Absicht verhindert hatte, dass Tamar ein Kind bekam – und das nur, um an das Erbe seines Bruders zu gelangen. In der Heiligen Schrift steht, dass Gott über ihn richtete, weil er aus Habgier gehandelt hatte.«
    »Wow«, meinte ich. »Wenn man die Geschichte mal im ganzen Zusammenhang sieht, bekommt sie eine völlig neue Bedeutung.«
    »Das wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert«, gab Father Reedy zurück.
    »Ich habe also nichts zu befürchten?«, fragte ich.
    »Jein«, erwiderte Father Reedy. »Was mich betrifft, ist alles im grünen Bereich, und Gott ist mit Sicherheit auch nicht wütend auf dich. Aber mein Gefühl sagt mir, dass das für dich keine Neuigkeit ist. Kann das sein?«
    »Na ja, ich
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