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Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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seinem Beruf – er ist Brückenbauingenieur – eine konstruktive Intelligenz. Seinen Selbstmord vollzieht er alles andere als souverän. Hinter einen Schrank gezwängt – Symbol der intellektuellen Sackgasse, in die er sich manövriert hat – , vom ungeduldigen ›Satan‹ Pjotr angestachelt, muss er sich in ideologische Ekstase schreien, bevor er die Waffe wirklich abfeuern kann.
    Auf der Ebene christlicher Symbolik wird die »schwachsinnige« Marja Lebjadkina durch ihre Prophetien und ihre innerliche Verklärung, aber auch durch die Inszenierung der Besuche des Erzählers und Stawrogins bei ihr als Eintritt in ein Gotteshaus zur Madonnengestalt (sie wohnt, wie auch Kirillow und Schatow, in der »Gotterscheinungsstraße«). Stawrogin (von griech. ›stauros‹, ›Kreuz‹), ihr »ungekannter Ehemann«, erwirbt göttliche Attribute außer durch seinen Namen auch in der Beziehung zu Marja wie zu Marie Schatowa, die anfänglich Maria Magdalena, später, als Gebärende, mit Schatow in der Josefsrolle, auch der Madonna ähnlich ist. Als falscher Messias und indirekter Todbringer ist er aber zugleich die Verkörperung des Antichristen. Das Motto des Romans aus Lk 8,32–37 (Heilung des Besessenen) verweist auf die Besessenheit Stawrogins (und der modernen Welt) von Ideologien, die in die Seelen seiner Gefährten gefahren sind »wie in die Säue«. Geheilt und durch Selbsterkenntnis von der Lüge befreit wird Stawrogin indes am Ende nicht. Das bleibt Stepan Trofimowitsch in der Stunde seines Todes vorbehalten (»J’ai menti toute ma vie«). Seine ästhetisierende Religiosität findet am Ende zu der Erkenntnis: »Die Liebe ist höher denn das Sein, die Liebe ist die Krönung des Seins.«
    Raffiniert ist der Einsatz einer Randfigur der Handlung als Erzähler. Teils scheint es, dass Anton Lawrentjewitsch den Leser an der Aufklärung der Geschehnisse teilhaben lassen will, teils scheint er die Ereignisse eher zu verdunkeln, vor allem aber mystifiziert er seine eigene Rolle. Stepan Trofimowitsch ist sein Vertrauter; die Verschwörer, an deren Versammlungen er teilnimmt, aber auch die Stadtbewohner sind die »Unsrigen«, er weiß stellenweise mehr, als er eigentlich wissen kann – ist das erzähltechnisches Unvermögen oder Raffinesse? Zu Beginn des Romans kokettiert Anton Lawrentjewitsch mit seiner schriftstellerischen Unbeholfenheit, dann aber spielt er souverän mit Registern wie Spott, Ironie, sentimentaler Anteilnahme, bürgerlicher Entrüstung und unabsichtlich-absichtlicher Andeutung. Jedes Faktum, jedes Urteil, das er kolportiert, zieht er durch Dementis und umständliche Kommentare wieder in Zweifel und »entwirft seinen Leser als Komplizen, den er in eine augenzwinkernde Kommunikation über die Figuren verwickelt« (A. Otto).
    Die reiche Wirkungsgeschichte des Romans kann hier nur angedeutet werden. In den 1920er Jahren hat der konservative Dostojewskij-Propagandist Moeller van den Bruck vor allem die sozialismuskritische Tendenz des Romans betont. Der ›philosophische Selbstmörder‹ Kirillow wurde in den 1950er Jahren zur Identifikationsfigur des Existenzialismus. Die Ausführungen Schigaljews über Freiheit und Despotismus werden heute in Russland als Prophezeiung der kommunistischen Diktatur verstanden. Jene Dialektik der Aufklärung, der sich die bürgerlichen Philosophen Adorno und H. Marcuse angesichts der sich auf sie berufenden RAF-Terroristen ausgesetzt sahen, scheint aufs Vollkommenste die Problematik der liberalen 1860er in Russland wiederholt zu haben. Adorno kopierte unfreiwillig den Ästheten Stepan Trofimowitsch, der die Radikalisierung seiner Ideen entrüstet zurückweist, Marcuse spielte den Part des abgehalfterten Dichters Karmazinow (eine böse Turgenjew-Parodie Dostojewskijs), der sich bis zuletzt bei der radikalen Jugend anbiedert.
Matthias Freise
Aus: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold (ISBN 978-3-476-04000-8). – © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart (in Lizenz der Kindler Verlag GmbH). [Schreibweisen in Kindlers Literatur Lexikon: Fëdor Dostoevskij, Varvara Petrovna Stavrogina, Stepan Trofimovič Verchovenskij, Kukol’nik, Dar’ja, Mar’ja Lebjadkina, Šatov, Lizaveta Nikolaevna, Michajlovna, Antonovič, Pëtr, Kirillov, Fedja, Šigalëv, Lavrent’evič]

Aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur:
    Fjodor
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