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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder
Autoren: Sam Hayes
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ich sie in meiner Panik nur übersehen. Womöglich litt ich ja an Baby-Blindheit, obwohl ich von solch einem Leiden noch nie gehört hatte. Da entdeckte ich plötzlich mitten auf der Straße einen kleinen weißen Babyschuh. Er sah aus wie selbst gestrickt. Ich hob ihn auf.
    Das kann durchaus Tashs Schühchen sein, dachte ich. Was hatte Sheila nicht alles für das Baby gestrickt! Mir erschien es als ein gutes Omen, dass ich ein Kleidungsstück meines Kindes gefunden hatte. Jemand wollte mir damit ein Zeichen geben; ich war nur zu dumm, um die Bedeutung zu verstehen.

    Liebe Natasha,
    herzlichen Glückwunsch, mein Liebling. Jetzt ist meine kleine Tash schon ein Teenager …

    Nein, so geht das nicht. Das klingt ja, als wäre sie noch ein Baby. Ich knülle den Brief zusammen und fange noch einmal von vorne an. Aber für mich ist sie eben noch ein Baby.

    Liebe Tash, (das ist schon viel lockerer) ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll, nach all den Jahren. Du wirst dich wahrscheinlich fragen, warum ich Dir bisher noch nie geschrieben habe. Um ehrlich zu sein, ich hatte zu viel Angst. Ich zucke schon zusammen, wenn ich den Namen Natasha im Fernsehen höre. Du musst wissen, dass ich Dich noch immer genau so liebe wie in den wenigen Wochen, die ich Dich bei mir haben durfte. Und wenn man das, was man liebt, nicht bei sich haben darf, na ja, dann tut das sehr weh …

    Wieder knülle ich das Papier zusammen. So ein Blödsinn! Sie wird mich auslachen.

    Als ich auf dem Rückweg von der Holt’s Alley wieder in Laufschritt fiel, schwappte es in meinem Magen, als hätte ich einen ganzen Liter Orangensaft getrunken. So kurz nach der Geburt hätte ich meinen Körper noch nicht überanstrengen dürfen.
    Natasha lag nicht im Wagen. Auch der Mann in der gelben Jacke und das ältere Paar oder andere Kunden waren nicht mehr da. Ich sehnte mich nach einem vertrauten Gesicht, nach einer Hand, die mich stützte, und einer Stimme, die mir »alles wird wieder gut« ins Ohr flüsterte. Die Hintertür meines Autos stand noch offen, hatte im Lack des Nachbarwagens Schrammen hinterlassen. Und auch der Kuchen lag noch genau da, wo ich ihn hatte fallen lassen.
    Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Es war, als könnte ich nach der Verfolgungsjagd wieder klar denken. Ich musste im Supermarkt Hilfe holen und Andy anrufen. Er war bestimmt noch bei der Arbeit.
    Wir hatten vorgehabt, uns bei seinen Eltern, Sheila und Don, zu treffen. Sheila würde wahrscheinlich über das kalt gewordene Essen meckern, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Bestimmt würde mir der Manager des Supermarkts eine Tasse Tee anbieten. Das war genau das, was ich in dieser neuen, fremden Welt brauchte, wo es weder Farben noch Geräusche, weder Zeit noch Gefühle gab und aus der ich nie wieder hinaus in ein normales Leben finden würde.
    Ich hob den Kuchen auf und wischte die Packung ab. Ob die Leute im Laden wohl denken würden, ich hätte ihn gestohlen, weil er nicht in einer Einkaufstüte steckte? Als ich den Supermarkt betrat, hatte ich die flüchtige Hoffnung, dass ich gleich aus diesem Albtraum aufwachen würde. Ich brauchte Menschen, freundliche, mitfühlende Menschen.

    Liebe Natasha, (doch lieber etwas förmlicher. Schließlich ist es schon eine Weile her)
    Du sollst wissen, dass ich in den vergangenen dreizehn Jahren jeden einzelnen Tag an Dich gedacht habe. Jedes Mal sah ich Dich ein wenig älter und größer vor mir. Und jetzt bist Du schon beinahe eine Frau. Ich schaue mir meine eigenen Jugendfotos an und versuche mir vorzustellen, wie Du wohl aussehen magst. Damals haben alle gesagt, Du wärst mir wie aus dem Gesicht geschnitten – die gleichen Grübchen, die gleichen Wimpern. Sind Deine Augen immer noch blau? Hast Du schon Deine Periode? Bist Du tot und verwest?

    Auch dieser Brief wandert in den Papierkorb. Es regnet; genau genommen ist es sogar ein Graupelschauer. Schon jetzt, um vier Uhr nachmittags, brennen die Straßenlaternen und tauchen das Pflaster in ein pfirsichgelbes Licht. Bei der Beleuchtung wirken die kahlen Bäume selbst an diesem trüben Novembernachmittag fast frühlingshaft.
    Ich habe den elektrischen Kamin eingeschaltet und der Fernseher läuft – irgendeine kitschige Quizshow, wo glückliche Familien Kühlschränke und Autos gewinnen können. Ich habe mir eine Tasse Tee gemacht. Später werde ich mir eine Flasche Gin oder Wodka zu Gemüte führen, je nachdem, was es gerade im Sonderangebot gab. Ich kuschele
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