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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder
Autoren: Sam Hayes
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aus auf die Motorhaube eines blauen Ford Kombi. Es war ein ganz neues Modell und flüchtig durchzuckte mich die Angst, dass ich das Blech verbeulen könnte. Ich sehe den Wagen noch heute vor mir, sogar die Handschuhe auf dem Armaturenbrett und den kleinen, wie einen Baum geformten Lufterfrischer, der am Rückspiegel baumelte. Ich kletterte auf das Autodach. Von dort oben konnte ich den gesamten Parkplatz überblicken.
    »Miss«, sagte der Mann in der gelben Jacke. »Beruhigen Sie sich doch, Miss!« Er starrte mich mit aufgerissenen dunklen Augen an, und ich wusste, dass er mich für verrückt hielt.
    »Seien Sie doch still!«, rief ich und horchte verzweifelt auf das Schreien. Es war von jener Seite des Parkplatzes gekommen, die an der Hauptstraße lag. Ich blinzelte gegen die Sonne und nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, sah ich jemanden rennen.
    Da rannte jemand mit einem Baby auf dem Arm über den Parkplatz.
    »Natasha!«, brüllte ich wieder. Als hätte sie mir antworten können! Ich sprang vom Autodach, knickte mit dem Knöchel um. Trotz des stechenden Schmerzes rannte ich in Richtung Hauptstraße. Ich bin ziemlich groß, dennoch war es fast unmöglich, die fliehende Person zwischen den Köpfen der Kunden auszumachen, die ihre Samstagseinkäufe erledigten. Rücksichtslos – eine verzweifelte Mutter mit Panik im Blick – bahnte ich mir einen Weg bis an den Rand des Parkplatzes, von wo aus ich die Straße überblicken konnte.
    Da stand ich nun, völlig außer Atem, meine milchschweren Brüste hoben und senkten sich unter dem Wintermantel im Takt meiner keuchenden Atemzüge, der Schweiß kribbelte mir auf dem Rücken. Während ich in beide Richtungen die Straße entlangspähte, schien sich das gewohnte Bild plötzlich zu verändern. Die Geschäfte, in denen ich mein Leben lang eingekauft hatte, waren mir auf einmal seltsam unvertraut. Die ganze Stadt erschien mir fremd und unbekannt. Ich kam mir vor wie eine Touristin, die sich in einem Land verlaufen hatte, dessen Sprache sie nicht verstand.
    Dann sah ich sie wieder, die rennende Gestalt. Mit Schal und Mütze gegen die Januarkälte geschützt, bog sie gerade in die kleine Holt’s Alley ein. Ihre behandschuhte Hand stützte das winzige Köpfchen eines schreienden Babys. Ich raste hinterher, zwischen den hupenden Autos hindurch, hinein in das schmale Gässchen. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass die Person, die ich verfolgte, wohl nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Sekunden Vorsprung hatte. Jetzt im Nachhinein ist mir klar, dass ich damals völlig konfus war.
    In der Holt’s Alley roch es ständig nach Frittenfett, Bier und Pisse. An einem Ende des kleinen Durchgangs lungerte normalerweise ein Grüppchen Jugendlicher herum, und an diesem 4. Januar 1992 war es nicht anders. Ein-, zweimal, als mich während der Schwangerschaft beim Einkaufen plötzlich Heißhungerattacken überfielen, hatte ich mich verstohlen in Al’s Imbissbude gedrückt. Jedes Mal bekam ich von den Kids ein paar freche Sprüche zu hören, so nach dem Motto, ob ich nicht wüsste, dass man von zu vielen Würstchen fett wird. Um die Bande nicht zu reizen, lächelte ich immer nur höflich, ging hinein und verschlang eine Portion Pommes. Dabei hatte ich so ein schlechtes Gewissen, als hätte ich während der Schwangerschaft geraucht. Aber da ich sonst alles – fast alles – richtig gemacht hatte, ging ich davon aus, dass ein paar Pommes und der Pissegeruch in dem Gässchen meinem Baby schon nicht schaden würden.
    Jetzt stürmte ich auf die Jugendlichen los und schlug einem von ihnen die Pepsidose aus der Hand.
    »Ey …!«
    »Habt ihr jemanden hier langrennen sehen? Mit einem Baby?« Meine Worte kamen keuchend und abgehackt, aber das war mir egal. »Ist hier gerade einer durchgelaufen?« Ich beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie. Zum Glück trug ich die schwarze Kordsamthose mit dem Gummizug, das einzige einigermaßen präsentable Kleidungsstück, in das ich noch hineinpasste.
    »Nö.«
    » Bitte! Mein Kind ist weg.«
    Aber diese pickeligen Typen gaben sich ganz cool, und ich bekam nichts aus ihnen heraus. Immerhin machte einer von ihnen ein paar Wochen später eine Aussage bei der Polizei, nachdem er die Vermisstenplakate gesehen hatte.
    Ich rannte weiter durch die Straßen, doch von der Person oder von Natasha war nichts mehr zu sehen.
    Auf dem Rückweg zu meinem Wagen redete ich mir ein, Natasha läge wohlbehalten in ihrem Babysitz. Vielleicht hatte
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