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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder
Autoren: Sam Hayes
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Stammkunden, doch jetzt habe ich ihn schon seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Vor vier Jahren ist seine Frau gestorben, und er hört dauernd Klopfgeräusche in seinem Haus.

    Im Supermarkt war ich unschlüssig, ob ich mich an einer der langen Schlangen vor den Kassen anstellen oder direkt zur Informationstheke gehen sollte, die an jenem Samstag ebenfalls von Kunden umlagert war. Schließlich stellte ich mich an der Schnellkasse an, die für Kunden mit weniger als zehn Teilen gedacht war. Die Frau vor mir hatte allerdings deutlich mehr Waren in ihrem Einkaufswagen.
    Nach wie vor erschien mir alles ringsum farblos, gleichsam ausgeblichen. So als hätte man die Welt zu heiß gewaschen. Alles war flach, zweidimensional, wie eines dieser Spielzeug-Puppentheater aus Pappe. Ich glaube, ich hätte bloß kräftig zu pusten brauchen, dann wäre der ganze Laden wie ein Kartenhaus eingestürzt.
    Meine kopflose Panik hatte sich gelegt. Jetzt wollte ich nur noch, dass sich jemand um mich kümmerte. Das Mädchen an der Kasse würde bestimmt Mitleid mit mir haben, wenn sie hörte, dass mein Baby verschwunden war. Mit kleinen Schritten schob ich mich vorwärts, in der Hand noch immer den Schokoladenkuchen, auf dessen Oberfläche meine Daumen Dellen hinterlassen hatten. Ich legte den Kuchen auf das Laufband, damit er nicht noch stärker ramponiert wurde.
    Endlich war die Frau vor mir an der Reihe. Sie brauchte eine Ewigkeit, um die Waren in ihrer Einkaufstasche zu verstauen, zu bezahlen und das Wechselgeld in ihre Geldbörse aus Krokoimitat gleiten zu lassen. Meine Sinne waren überwach, jede winzige Kleinigkeit prägte sich mir ein, so als könnte ich damit die Wirklichkeit ausblenden. Damals merkte ich es nicht, aber meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jetzt im Nachhinein glaube ich, dass Natasha ganz in der Nähe war. Jetzt im Nachhinein ist mir klar, dass ich es völlig falsch angefangen habe.
    Der ganze Körper tat mir weh. Ich machte noch einen kleinen Schritt, dann stand ich vor der gleichgültigen Kassiererin, die schon die Hand nach meinem Kuchen ausstreckte.
    »Ich wollte eigentlich nichts kaufen. Ich dachte bloß, ob mir jemand …« Zu spät. Sie hatte den Kuchen schon über den Scanner gezogen.
    »Zwei neunundneunzig, bitte. Ich lasse Ihnen einen anderen holen; der hier ist ja ganz eingedrückt.« Sie neigte sich zum Mikrofon und schloss beim Sprechen die Augen. Wie beim Karaoke. »Sandra, bitte an Kasse drei. Kasse drei, bitte. Die Kundin wartet.«
    »Aber ich habe doch schon …« Ich brachte keine Erklärung zustande. Stattdessen kramte ich in meiner Geldbörse, die überhaupt nicht mehr wie meine Geldbörse aussah. Auch die Hände, die sich an der Schnalle meiner Handtasche zu schaffen machten, kamen mir fremd vor, ebenso wie meine Stimme. Ich war nicht mehr Cheryl.
    Mit zitternden Händen reichte ich dem Mädchen meine Kreditkarte. Mein letztes Bargeld hatte ich ausgegeben, als ich den Kuchen das erste Mal kaufte.
    »Bitte hier unterschreiben.«
    Sandra kam mit dem Ersatzkuchen. Mir fiel sofort das Verfallsdatum ins Auge. Der Kuchen hier war einen Tag älter als der, den ich ausgesucht hatte.
    Ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn du dich mit solchen Lappalien abgeben kannst, ist dein Baby bestimmt gar nicht weg. Wenn Natasha wirklich verschwunden wäre, würde ich doch nicht hier in diesem Laden stehen und denselben Kuchen ein zweites Mal bezahlen! Ich würde schreien, nach der Polizei rufen, weinen, heulen, von einem Kunden zum anderen rennen und alle verzweifelt um Hilfe anflehen!
    Ich unterschrieb den Zettel und fing an zu lachen. Ich lachte vor lauter Erleichterung, weil Natasha ganz bestimmt nicht entführt worden war. Ich hatte sie einfach im Auto gelassen. Ich war auf dem Weg zu Sheila und Don, wo ich Andy treffen wollte. Wir würden gemeinsam den Nachmittag verbringen, uns über Babys unterhalten, Tee trinken und den Schokoladen­kuchen essen, den ich soeben erstanden hatte.
    Über Babys wusste Sheila bestens Bescheid. Immerhin hatte sie drei Kinder geboren. Sie strickte wie eine Wilde und gab mir bei jedem Besuch unzählige Tipps für die Aufzucht und Haltung meines Kindes, so als wäre Natasha ein exotisches Haustier.
    »Wenn das Baby genug getrunken hat, schieb ihm deinen kleinen Finger in den Mundwinkel, damit es zu saugen aufhört. Sonst bekommst du entzündete Brustwarzen«, hatte Sheila einmal gesagt, als wir über das Stillen sprachen. »Und wenn du die Windeln wechselst, lass das Baby
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