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Blutschnee

Blutschnee

Titel: Blutschnee
Autoren: C Box
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viele Ziele zur Auswahl standen, falls er die Wiese von seinem Standort aus im Blick hatte. Es wäre interessant, wie sich die Situation entwickelte – wenn sie es denn tat. Gut möglich nämlich, dass der Mann bloß durch den tiefen Wald fuhr und – wie neun von zehn Jägern – von der Straße aus schoss. So würde er nie erfahren, dass eine ganze
Wapitiherde etwas weiter oben auf eine Lichtung getreten war. Joe saß reglos in seinem Pick-up und wartete.

    Ein scharfer Knall zerriss die Stille, gefolgt von drei weiteren Schüssen, die allesamt klangen, als hätte jemand in rascher Folge Steine gegen ein Walzblech geschleudert. Das Geräusch verriet Joe, dass der Jäger mindestens dreimal getroffen hatte, doch da man oft mehrere Kugeln brauchte, um einen großen Wapitihirsch zur Strecke zu bringen, wusste er nicht, wie viele Tiere es erwischt hatte. Als hätte sie einen Stromstoß bekommen, sprang Maxine – seine gelbe Labradorhündin – von dem Sitz hoch, auf dem sie geschlafen hatte.
    Weiter unten war die Herde sofort losgelaufen und stürmte jetzt über die Wiese. Drei braune Punkte blieben im hohen Gras und im Salbeigesträuch zurück.
    Ein Jäger, drei geschossene Wapitis: zwei Tiere mehr als erlaubt.
    Joe war wütend und zugleich besorgt. Wildfrevel während der Jagdzeit war nicht ungewöhnlich, und er hatte im Laufe der Jahre Hunderten von Jägern einen Strafzettel verpasst, weil sie zu viele Tiere erlegt oder die Kadaver nicht etikettiert hatten, weil sie mangelhafte Jagdscheine besaßen, in Sperrgebieten gejagt oder andere Ordnungswidrigkeiten begangen hatten. Vielfach hatten die Gesetzesbrecher sich schon selbst angezeigt, weil sie ehrbare Leute waren, die seit Jahren in der Gegend lebten und jagten. Oft stieß Joe bei Zufallskontrollen in Jagdlagern auf Gesetzesverletzungen. Mitunter meldeten auch andere Jäger die Vergehen. Joe Picketts Bezirk umfasste ungefähr viertausend Quadratkilometer, und in den bald vier Jahren, die er nun hier Dienst tat, war er fast nie persönlich bei einem Jagdfrevel zugegen gewesen.

    Joe nahm sein Funkgerät aus der Halterung und gab der Zentrale über statisches Rauschen hinweg seine Position durch. Die Isolation und das bergige Gelände ließen keine klare Verständigung zu. Die Frau in der Funkzentrale wiederholte seine Worte, Joe bestätigte sie, beschrieb den Pick-up und informierte sie, dass er sich dem Wagen nähern werde. Als Antwort kam nur schrilles Rauschen. Wenigstens wissen sie, wo ich bin, dachte er – das ist leider nicht immer der Fall gewesen.
    »Los geht’s, Maxine«, sagte Joe knapp, ließ den Motor an, legte den Kippschalter auf Allradantrieb um und jagte den Hang hinab in den Wald. Trotz eisiger Luft ließ er die Fenster runter, um keinen Schuss zu verpassen. Sein Atem wischte in weißen Wölkchen aus dem Seitenfenster.
    Tatsächlich knallte im nächsten Moment ein neuer Schuss, wieder gefolgt von drei weiteren. Der Jäger hatte offenbar nachgeladen, denn kein zugelassenes Jagdgewehr hatte mehr als fünf Schuss im Magazin. Der Leithirsch brach in die Knie, dazu eine Hirschkuh und ihr Kalb. Statt in den Schutz der Bäume zu hetzen, änderte die Herde kurz vor dem Waldrand unerklärlicherweise die Richtung, beschrieb einen Bogen, rannte hangabwärts über die Wiese und bot dem Schützen die Flanke dar.
    »Mist!«, fluchte Joe. »Warum kehrt ihr denn um?«
    Zwei Schüsse streckten zwei weitere Wapitis nieder.
    »Der Kerl ist wahnsinnig!«, rief Joe Maxine zu – ein Zeichen seiner aufsteigenden Furcht. Wer seelenruhig sechs, sieben panische Wapitis zur Strecke brachte, konnte auch auf einen einzelnen Jagdaufseher zielen. Joe überlegte, welche Waffen er dabeihatte: Der .308er-Karabiner lag unter der Rückbank; das .270er Winchester-Gewehr steckte in der Halterung hinter seinem Kopf; die großkalibrige Schrotflinte hatte er hinter
seine Lehne gestopft … und an nichts davon kam er beim Fahren heran. Seine Handfeuerwaffe war eine neue .40er Beretta, Ersatz für die .357er Magnum, die im Sommer durch eine Explosion zerstört worden war. Die Schießprüfung mit der Beretta hatte er nur knapp bestanden – zum einen, weil er ein lausiger Pistolenschütze war, zum anderen, weil er weder der Waffe noch seiner Fähigkeit traute, damit etwas zu treffen.
    Er folgte einem Kamm, stieß auf eine alte Reifenspur und donnerte auf ihr hangabwärts. Obwohl unzählige Wirtschaftswege den Wald durchzogen, kannte er keinen, der direkt zur Wiese führte. Auch hatte die
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