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Blutsbrüder

Blutsbrüder

Titel: Blutsbrüder
Autoren: Ravensburger
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er sich seit einiger Zeit beim nahen Fleischer zubereiten lässt und das er vor seinem Vater versteckt.
    Mit gesenktem Kopf verharrt er vor der Zimmertür, gefangen in den Gedanken an die Vorfälle der Nacht. Stumm steht er dort, statt sich wie jeden Abend an seinen Schreibtisch zu setzen und das ihm für den Monat verbleibende Geld, den Rest des Schülerbafög s – Geld, das er meist bei sich träg t – zu überschlagen.
    Als ahne der Vater seine Schwäche, erhebt er sich überraschend schnell aus der Couch, steht fast im selben Moment neben seinem Sohn und nuschelt: »Verfluchter Rumtreiber! Wie deine verfluchte Mutter!« Dann wischt er Darius mit dem Handrücken einmal quer durchs Gesicht.
    Darius spürt das Brennen seiner Wange und muss sich zwingen, nicht doch noch die Beherrschung zu verlieren. Er merkt, wie er die Zähne so fest aufeinanderbeißt, dass sie knirschen, und verschränkt die Hände unwillkürlich ineinander, um nicht zurückzuschlagen: um seinen Vater nicht quer durch die Küche zu prügeln, bis er blutend vor ihm läge und, da ist sich Darius sicher, weiterhin wimmern würde: ›Los, schlag doch zu, du Bastard!‹
    Nein, denkt Darius.
    Er wendet sich ab, betritt sein Zimmer, sieht sich u m – alles unveränder t – und schließt die Tür ab, die er mit einer Spanplatte verstärkt hat. Dann lässt er sich auf sein Bett fallen.
    Bevor er die Kopfhörer aufsetz t – sanfte Musik aus den Neunzigern, als er ein kleiner Junge gewesen ist und sein Vater seltener betrunke n –, sieht er nach, ob seine Schulsachen in der Umhängetasche und dem vielfach bemalten, mit zahllosen Buttons verzierten Rucksack vollständig sind. Dann streicht er den nächsten der noch vor ihm liegenden Tage, bis er volljährig sein wird, mit einem besonderen Stift aus: Vier Woche n – dann ist es vorbei!
    Er überlegt, ob er eine SMS an Rike schicken soll, und verwirft den Gedanken sofort. Er denkt: Ich schaffe das, allein.
    Ehe er einschläf t – und während er dem leisen Rascheln der Kaninchen auf dem Balkon lausch t –, erinnert er sich an die Zeit vor acht, neun oder zehn Jahren.
    Sein Vater, der damals zwar nicht regelmäßig, aber doch immer wieder auf dem Bau gearbeitet und weniger getrunken hat, der kräftig gewesen ist und erheblich größer, geht mit ihm auf ihre Wiese im Stadtpark.
    Er bringt seinem Sohn die Tricks und Kniffe bei, mit denen Darius am nächsten Tag beim Fußballtraining im Verein die Gegner überlisten wird, hin und wieder sogar den Trainer, der ihn lobt.
    Danach sitzen Darius und sein Vater in einem Lokal und trinken eine Cola mit Eis und Zitrone. Sie unterhalten sich, sie reden, wenn auch nicht viel. Sie sprechen von Darius’ Fußballverein und den nächsten Spielen.
    Darius stellt die Musik aus und kämpft mit den Tränen. Manchmal kann er seine Trauer kaum beherrschen, wenn er an die Zeit denkt, als er noch ein Junge war und die Welt ihm schön schien und er seine Mutter nicht vermisst hat.
    Wie so oft denkt er auch jetzt: Für Hakan ist es früher, zumindest manchmal, schwerer gewesen. Doch weder tröstet ihn der Gedanke noch beruhigt er ihn. Nur die Erschöpfung lässt ihn Minuten später einschlafen.

2
    Im Gegensatz zu anderen Schülern der Oberstufe achtet Darius darauf, keine Schulstunde zu versäumen. Insbesondere, nachdem er in der achten Klasse ein Mal sitzen geblieben ist. Kein Nachteil, denkt Darius, dieselbe Klasse wie Hakan, das ist besser.
    Manchmal fällt ihm der Unterricht schwer und er hat Mühe, morgens aus dem Bett zu kommen. Doch sobald er den Eindruck hat, alles werde ihm zu viel, muss er sich nur an die Grundschulzeit erinnern. Oder sich die türkischen Dickmänner vorstellen, die an der nahen Hauptschule in einer Warteschleife kreisen und keine Aussicht haben als Dönerbude, Türsteher oder Gangster im Taschenformat. Oder er denkt an die deutschen Jungen, die sich an den Nachmittagen darum bemühen, den türkischen Slang nachzuahmen und wie Orang-Utans in der Gegend herumzustehen: »Alter, was guckst du, du Opfer?«
    Nach der nächtlichen Aktion trudeln Simon, Jan-Niklas, Tomtom und schließlich auch Alina erst im Lauf des Vormittags an der Schule ein, Cora und Marvin scheinen im Bett geblieben zu sein. Nur Hakan ist pünktlich wie immer. Für ihn beginnt der Unterricht aber erst in der vierten Stunde. Darius ist froh, als Hakan ihn endlich begrüßt, denn die anderen scheinen ihn während der Pausen zu meiden. Sie wirken, als wollten sie nicht noch einmal an die
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