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Blutlinie

Blutlinie

Titel: Blutlinie
Autoren: Kim Jones
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Hier war mein Zuhause, und auch wenn ich meine Eltern vermisste, so wollte ich doch bleiben. Vielleicht war ich zu ängstlich und ich wollte das Vertraute nicht aufgeben, oder ich war einfach eine olle Dorftussi, die insgeheim die Großstadt hasste. Wer wusste das schon? Ich spürte im Augenblick nur eines in mir, und zwar, dass ich hier nicht weg wollte, noch nicht. Mary hatte mir schon mehrfach den Vorschlag gemacht, aus diesem Kaff, wie sie es nannte, wegzuziehen und ein neues Leben zu beginnen und somit einen neuen Job zu suchen. In diesem Atemzug erwähnte sie, dass ich die Buchhandlung verkaufen sollte und überall auf der Welt eine neue aufmachen könnte. So drastisch formulierte sie es natürlich nicht, jedoch ahnte ich die Absicht dahinter. Sie deutete beiläufig an, dass sie gern mit mir zusammenarbeiten würde und wir uns das Geschäft teilen sollten.
    Ich war gerührt, dass sie darüber nachdachte, und auch ich wäre dem sicher nicht abgeneigt gewesen und hätte sie gern bei mir eingestellt, nur fehlten mir die finanziellen Mittel dazu. Bildlich hatte ich Mary herumhüpfen gesehen, wie sie die Kunden bediente und mit ihrer flockigen Art jeden überredete, selbst die unpassendsten Bücher zu kaufen. Naja, möglicherweise war es doch irgendwann einmal so weit…irgendwann…
    Mir fiel ein, dass irgendwann ein Synonym für nie war, so empfand ich es oft. Wenn man etwas wirklich wollte, musste man es anpacken und nicht darauf vertrauen, dass es sich von selbst einstellte, denn das war Humbug. Aber wem wollte gerade ich etwas vormachen, wo ich doch die personifizierte Angst schlechthin war? Ich schüttelte den Kopf und beschloss, noch ein wenig spazieren zu gehen.
    Der Schnee hatte sich in der Nacht eingestellt und der Himmel war zwar mit Wolken verhangen, aber von einem satten Blau. Es war kurz nach drei Uhr, also noch genug Zeit, etwas die Seele baumeln zu lassen. Ich schaltete die Anlage aus, ging ins Schlafzimmer und zog mich um. Der Hausanzug wich dunkelblauen Jeans und einem warmen Pulli. Auch in diesem Zimmer stapelten sich viele Bücher auf den Regalen. Meine Lieblingsbände von Jane Austen und
Emily Brontë
standen fein säuberlich aufgereiht auf dem Nachttisch. Ich öffnete nochmals den zweitürigen Kleiderschrank, um nach einem passenden Outfit für heute Abend zu suchen. Für solche Anlässe hatte ich einfach nicht die richtige Kleidung, um mit den Covergirl-Miezen mitzuhalten, die so wenig Stoff trugen, dass ein Waschlappen weit mehr Material hatte. War ich etwa neidisch? Wenn man auf zwei Meter lange Beine und eine Wespentaille eifersüchtig sein konnte, dann schon. Nach einer Weile gab ich entnervt auf und entschloss mich, einfach in den Club einen Rock und ein Shirt anzuziehen, beides in Schwarz, das ging immer. Wenn nicht Mary mit irgendwas ankam, was meinen Körper mehr enthüllte als verbarg. Bei ihr war alles möglich, zumal sie auch gern etwas knapper ging, um den männlichen Besuchern aufzufallen, wie sie es stets grinsend formulierte.
    Ich zog die mit floralem Muster bestickte Tagesdecke über mein Bett, schnappte mir ‚Sturmhöhe’ vom Nachttisch und zog im Flur meine Stiefel an.
    Draußen empfing mich eisige Luft, die meinem Atem kleine Wölkchen entlockte. Ich zog die dunkle Mütze, nachdem ich den MP3-Player in die Ohren gesteckt hatte, darüber und lief mit den Goo Goo Dolls , die gerade von Iris sangen, die Straße hinunter. Kühler Wind umfing mich an der Ecke, während ich den Weg zum Park einschlug.
    Ich erblickte Kinder, die am See herumtollten, der ruhig und von kahlen Ahornbäumen und Eichen gesäumt, dalag. Viele Familien hatten sich, genauso wie ich, entschlossen, an die frische Luft zu gehen und den klaren Herbsttag mitzunehmen, um ein wenig durchzuatmen und sich zu entspannen. Ältere Paare gingen Hand in Hand auf den Wegen und lachten, ein junger Mann stritt mit einer Frau, meine Musik passte nicht im Geringsten zu der Szene. Sie wedelte aufgeregt mit den Armen herum, die Miene wütend verzerrt, dann gab sie ihm eine schallende Ohrfeige und rauschte davon. Er lief ihr hinterher. Ich musste komischerweise darüber lächeln. Liebe hatte so viele Gesichter, dass man nicht mit dem Zählen hinterher kam. Was heute Glück ist, kann morgen Enttäuschung, Zorn oder Hass sein. Dass dem nicht immer so war, konnte ich an den glücklichen Zügen der Paare erkennen, die an mir vorbeiliefen.
    Ich steuerte auf eine Bank zu, fischte ein Taschentuch aus meiner Jacke, wischte den
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