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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
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verwesenden Elchen zu suchen, die Zecken an den Kadavern zu zählen und die ansehnlichsten Exemplare der Parasiten für eine spätere Untersuchung mitzunehmen. Das taten sie nicht nur gern, sondern bezahlten sogar für dieses Privileg, was hieß, dass Uneigennützigkeit doch kein Mythos war. Alle Earthwatcher, die Anna bis jetzt kennengelernt hatte, waren jung wie Rory Van Slyke. Wahrscheinlich lag das daran, dass ein Erwachsener diese Plackerei nicht überlebt hätte.
    »Wie geht es dir?«, sagte Anna, ohne nachzudenken.
    »Gut, vielen Dank. Und dir?«
    Es war schon lange her, dass jemand diese altmodische Begrüßungsformel zu Ende gebracht hatte. Offenbar war Rory gut – oder streng – erzogen worden.
    »Ausgezeichnet«, entgegnete sie. Der Junge – der junge Mann – hatte eine leise, helle Stimme, die klang, als hätte er den Stimmbruch noch vor sich, obwohl seine Pubertät gewiss schon ein paar Jahre zurücklag. Er wirkte zwar nicht kräftig genug, um als Sherpa viel herzumachen, doch als Bärenköder würde er schon genügen: zierlicher Körperbau, zarte Haut, dichtes blondes Haar und dunkelblaue Augen mit Wimpern, die so farblos waren, dass man sie fast nicht sah.
    »Der Plan lautet wie folgt.« Joan breitete eine topografische Karte auf dem Tisch vor Anna aus und beugte sich dann über ihre Schulter, um mit dem Finger zu zeigen. Sie stank ebenfalls zum Himmel. Es war schön, sich einer Gruppe zuordnen zu können.
    »Wir haben den Park in acht Kilometer lange und acht Kilometer breite Sektoren unterteilt«, erklärte Joan, legte eine Schablone aus durchsichtigem Plastik auf die Landkarte und richtete sie anhand von Koordinaten aus, die sie auswendig wusste. »Jeder Sektor ist nummeriert und mit einer Haarfalle ausgestattet. Damit wollen wir nicht den ganzen Bären fangen, sondern nur sichergehen, dass durchziehende Tiere Proben ihres Fells für die Studie hinterlassen. Die Fallen befinden sich so nah wie möglich an den natürlichen Wanderrouten der Bären: Bergpässen, der Mündung von Lawinenrinnen und so weiter. Also reden wir hier von Gewaltmärschen querfeldein, wie ihr sie noch nicht erlebt habt. Diese Sternchen«, sie deutete mit einem kurzen, gebräunten Zeigefinger auf die Filzstiftmarkierungen auf der Schablone, »stehen für die zuletzt aufgestellten Fallen. Sie sind jetzt seit zwei Wochen vor Ort. Wir drei werden uns fünf Sektoren vornehmen: Nummer dreihunderteinunddreißig, dreiundzwanzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig und vierundsechzig. Hier in der Mitte und am Westhang des Flattop Mountain. Unsere Aufgabe besteht darin, das Fell aus den alten Fallen einzusammeln, die Fallen zu demontieren und sie anderswo wieder aufzubauen.«
    Sie legte eine zweite Plastikschablone auf die erste, sodass eine weitere Anordnung von Sternchen zu sehen war. »Zumindest so nah, wie wir an die entsprechenden Orte herankommen können. Punkte in einem gemütlichen Büro zu markieren hat nur wenig mit dem zu tun, was man in felsigem, bergigem oder mit Unterholz bewachsenem Gelände tatsächlich vorfindet.
    Nachdem der Draht der Falle gespannt ist, gießen wir den Nektar der Götter – das ist das Parfüm aus Blut und Fischgedärmen, das du an uns zu ignorieren versuchst, Rory – hinein und lassen das Ganze ein paar Wochen lang stehen. Während wir dort herumlaufen, werden wir auch den Flattop Mountain Trail unterhalb des Fifty Mountain Camps bis zur Mitte des Waterton-Tals und den West Flattop Mountain Trail zwischen der Kontinental-Trennlinie und dem Dixon-Gletscher unter die Lupe nehmen. Bären sind wie wir: Sie entscheiden sich wenn möglich für den einfachsten Weg. Deshalb haben wir einige Bäume entlang der Wanderwege markiert, an denen sie sich gerne scheuern. Dort sammeln wir Haarproben und auch Kotproben ein, falls wir welche finden.«
    Der Vortrag war für Rory bestimmt. Anna hatte ihn bereits gehört, als Joan und ihre Vorgesetzte Kate ihr die herausfordernde Aufgabe erklärt hatten, die es bedeutete, Daten für das DNA -Projekt zu gewinnen. Die Idee dazu stammte von Kate Kedal, einer Wissenschaftlerin, die im Auftrag des USGS – des amerikanischen geografischen Forschungsinstituts – und der Nationalen Parkaufsicht tätig war.
    Aus dem sichergestellten Fell und dem Kot würde man die DNA einzelner Bären extrahieren. Dank moderner, vom Labor der University of Idaho eingesetzter Techniken war es möglich, Geschlecht und Spezies zu bestimmen und einzelne Bären zu identifizieren. Anhand dieser
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