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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
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pädophilen Gedanken wiedergutzumachen.
    »Ihr Vater war ein wahrer Adonis. Ist er immer noch. Und er weiß es auch. Macht die kleinen Mädchen nach wie vor verrückt.«
    Ein weiteres Kapitel derselben alten Geschichte.
    »Aha«, sagte Anna.
    »Falls ich je wieder heirate, dann einen reichen alten Buckligen mit schlechten Zähnen.«
    Anna nahm eines der Fotos und betrachtete es, einfach nur deshalb, weil sie glaubte, dass Joan die Bilder geholt hatte, um sie eingehend bewundern zu lassen.
    »John?«
    »Luke. Er ist zwar der Jüngere, aber größer.«
    Die braunen Augen, die wegen der leicht nach unten gebogenen äußeren Augenwinkel ein wenig melancholisch wirkten, waren die seiner Mutter. Ansonsten war er ganz und gar nach dem Adonis geraten. »Er sieht ein bisschen aus wie Rory Van Slyke«, stellte Anna fest. Allerdings war »aussehen« nicht ganz das richtige Wort. Die beiden Jungen ähnelten sich zwar oberflächlich, doch es waren vor allem die Augen, die diesen Eindruck erweckten. Sie blickten so eindringlich drein, wie es bei einem derart jungen Menschen eigentlich nicht sein sollte. So, als hätte er in der Zeit, die für andere eine unbeschwerte Kindheit war, schon genug vom Leben gesehen, um davon enttäuscht zu sein.
    »Das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete Joan.
    Ihr Tonfall hatte etwas Wehmütiges. Joan vermisste ihre Söhne und hatte den jungen Van Slyke vielleicht aus den Mitgliedern von Earthwatch herausgepickt, weil er sie an Luke erinnerte. Offenbar hatte Joan bemerkt, dass sie sich eine Blöße gegeben hatte, und empfand das als peinlich. Jedenfalls war der Moment der Vertrautheit vorbei.
    »Berichte über Begegnungen mit Bären«, verkündete sie gekünstelt fröhlich. »Da wird einem nie langweilig. Ich lese dir einen vor.« Die Formulare waren ein Versuch, jedes Zusammentreffen mit einem Bären im Park zu dokumentieren. Touristen und Parkmitarbeiter füllten sie aus, um das Verhalten und den Aufenthaltsort der Grizzlys und ihrer weniger beängstigenden Cousins, der Schwarzbären, nachzuvollziehen. Die Formulare hatten Spalten, in die man den Ort der Beobachtung, das Datum, die Uhrzeit, den eigenen Namen, die Farbe des Bären und was man gerade getan hatte eintragen konnte. Am unterhaltsamsten, wenn auch nicht immer am aufschlussreichsten, war die Spalte für die Kommentare, in der das Verhalten des Bären geschildert wurde.
    Joan kramte in den Berichten. Anna bemerkte, dass sie dabei unauffällig die Fotos ihrer Söhne in die andere Richtung drehte. »Hier haben wir es. Hör dir das an: ›Großer Bär. Gewaltig, ein wahrer Riese, ein richtiger Brocken. Fünfhundert bis sechshundert Kilo.‹«
    »Zu groß?«
    »Bei Weitem. Im Glacier werden die Grizzlys nicht so groß wie in Alaska, wo sie Zugriff auf eiweißreiche Lachse haben. Hier wiegt ein durchschnittliches Männchen hundertfünfundsiebzig bis zweihundert Kilo, die Weibchen ein bisschen weniger. Wir bekommen viele übertriebene Berichte. Aber ich mache es den Leuten nicht zum Vorwurf. Wenn man allein im finsteren Wald ist und plötzlich vor einem Bären steht, verdoppelt das Biest meistens seine Größe.«
    Joans gute Laune wirkte aufgesetzt. Das Gleichgewicht war noch nicht wieder hergestellt. Die Geister von Matthew, Mark, Luke und John schwebten weiterhin über den Röhrchen für die Kotproben. Anna fragte sich, ob es mit den Jungen Probleme gab oder ob es an Joan lag.
    »Ich habe hier einen guten«, versuchte sie, die Situation zu überspielen. Sie blätterte zurück, bis sie ein mit fliederfarbenem Tuschestift ausgefülltes Formular vor sich hatte. »5. August. Kein Ort. Keine Uhrzeit. Kein Name. Spezies: Grizzly. Alter: sechsundzwanzig. Farbe: blond. Keine Ahnung, was das heißt. War der Bär sechsundzwanzig und blond oder der Beobachter?«
    »Blond kommt bei unseren Bären selten vor.«
    »Das ist aber noch nicht das Komische. Hör zu.« Anna las die Spalte für die Kommentare vor. »›Verhalten des Bären: jonglieren mit etwas, das wie ein Igel aussah. Verhalten des Beobachters: dastehen und staunen.‹«
    Als Joan lachte, legte sich die Anspannung wieder. Anekdoten über die Albernheiten der Touristen waren ein zuverlässiges Mittel, um Normalität in den Parkalltag einkehren zu lassen. »Solche Berichte bestätigen mir immer wieder, dass Timothy Leary noch lebt und mit Elvis Drogen einwirft«, sagte die Forscherin.
    Es war nach zehn in Joans Gästezimmer, das wie jedes Gästezimmer in einer Unterkunft für
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