Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
Grad gestiegen war. Doch Anna, die gerade einem August in Mississippi entronnen war, genoss die Kühle und den Schatten.
    Joan marschierte, gefolgt von Rory, voran. Anna bildete die Nachhut. Im Laufe der Jahre hatte sie die Erfahrung gemacht, dass es möglich war, sich aus der Gesprächszone herauszuhalten und sich am Alleinsein zu erfreuen, wenn man einfach langsamer wurde und ein wenig zurückblieb. Hier kam auch noch die Stille hinzu.
    Nichts rührte sich. Kein Vogel flatterte in den Baumkronen und brachte Nadeln und Laub zum Rascheln. Kein Insekt summte. Kein Eichhörnchen schnatterte im Geäst und beschwerte sich über die Ruhestörung. Anna fragte sich, ob in den Wäldern im Westen schon immer ein so ungewöhnliches Schweigen geherrscht hatte. Oder waren ihre Ohren inzwischen an das ständige Konzert des Lebens gewöhnt, das in den Wäldern des tiefen Südens aufgespielt wurde?
    Möglicherweise hatte ja auch ein riesiges Raubtier mit spitzen Zähnen die Geschöpfe des Waldes vorübergehend zum Verstummen gebracht.
    Anna wartete auf den wohlig-gruseligen Schauder, der eigentlich auf einen solchen Gedanken folgen musste, doch diesmal ausblieb. Ihre Todesangst vor Feuerameisen erstreckte sich offenbar nicht auf Grizzlys. Sie merkte Rory an, dass er ihre Gelassenheit nicht teilte. Auf der Fahrt hierher hatte der Parkmitarbeiter sie mit der Schilderung eines Bärenangriffs unterhalten, mit dem er vor zwei Sommern zu tun gehabt hatte. Im Gebiet Middle Fork am südlichen Rand des Parks waren drei Wanderer verwundet worden.
    Joan, die zwar Mitleid mit den bedauernswerten Touristen hatte, jedoch eindeutig für den beschuldigten Bären Partei ergriff, hatte daraufhin ihre Version der Ereignisse zum Besten gegeben. Nur in den seltensten Fällen kämen Menschen zu Tode. Grizzlys, erklärte Joan, griffen normalerweise nicht in der Absicht an, den Betreffenden aufzufressen. Sie behielten ihre Jungen zwei oder sogar drei Jahre bei sich und seien deshalb neben Menschen und Menschenaffen die Lebewesen, die die längste Zeit mit der Aufzucht ihres Nachwuchses verbrächten. Sie zeigten den Kleinen, wie man überlebte, wo man in trockenen Jahren Wasser fand, welche Pflanzen essbar waren und wo sie wuchsen. Eine Grizzlybärin sei erst mit sechs Jahren fortpflanzungsfähig und brächte im Laufe ihres Lebens nur fünf bis zehn Junge zur Welt. Die Folge daraus sei ein stark ausgeprägter Beschützerinstinkt. Wenn sie jemanden – sei es ein anderer Bär oder ein Mensch – als Bedrohung wahrnähme, habe sie also nicht die Absicht, ihn zu fressen, sondern nur, ihm ordentlich Angst einzujagen.
    Ganz selten griffe sie eine Gruppe von vier oder mehr Personen an, da sie die Gefahr für sich und ihre Familie als übermächtig einschätze und sich deshalb für die Flucht entschiede. Deshalb empfehle die Parkverwaltung Besuchern, sich niemals allein auf den Weg zu machen.
    Der fragliche Bär war von zwei Wanderern überrascht worden, hatte sich auf sie gestürzt und sie verletzt – »So schlimm war es offenbar nicht«, fügte Joan hinzu. »Sie konnten noch gehen.« – und war dann auf seiner Flucht mit einem dritten Pechvogel zusammengestoßen.
    »Es ist niemand ums Leben gekommen«, betonte Joan. »Wenn der Bär sie hätte umbringen wollen, wären sie jetzt tot. Wenn er Lust gehabt hätte, sie aufzufressen, hätte er sie weggeschleppt, es getan und die Reste für später in einer flachen Grube versteckt. Ergo hatte der Bär weder vor, sie zu töten, noch, sie zu verspeisen.«
    Nach Rorys Miene zu urteilen, war »sie zu töten und zu verspeisen« das Einzige, was von dem Vortrag hängen geblieben war. Seit sie unterwegs waren, spähte er immer wieder in den Wald wie ein Mann auf der Flucht.
    Anna war überzeugt, dass sie es nicht bemerken würden, falls ein Bär sie beobachten oder verfolgen sollte. Da im Glacier im Winter tiefer Schnee lag und es im kurzen Sommer jeden Nachmittag regnete, hatten die Wälder hier nicht die offene, an eine Kathedrale erinnernde Gestalt wie die an den östlichen Hängen der Sierra oder am Südzipfel der Cascades. Im Glacier war der Boden dick mit toten und umgestürzten Bäumen bedeckt, die nie verbrannt oder fortgeschafft worden waren. An manchen Stellen lagen sie, geschichtet wie Mikadostäbchen, übereinander. Farne, Heidelbeeren, Bärentrauben, Elsbeeren, die schulterhohe schwarze Himbeere mit ihren breiten Blättern und eine Vielzahl weiterer Pflanzen, die Anna nicht beim Namen nennen konnte, rankten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher