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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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Alkoholkrankheit, die sich vielleicht durch eine weitere Enthüllung der Vergangenheit noch verschlechtern konnte.
    „Hm. Schon seltsam, dass du gerade jetzt damit anfängst. Vorher ist schon einiges passiert, das habe ich überhaupt noch nie jemanden erzählt!“ Sieglinde schien mit einem Mal sich alles von ihrer Seele reden zu wollen.
    „Was denn?“
    „An den Wochenenden hat Vater bei Frauen illegal Abtreibungen gemacht. Welche Ironie, wenn ich bedenke, dass er unsere Mutter einsperrte, damit sie ja sein Kind bekommt.
    |204| Besonders gerne machte er es bei solchen, die von einem schwarzen GI schwanger waren. Bei jenen machte er es dann ohne Narkose.“
    „Warst du dabei?“, frage Anne entsetzt. Das stand nicht in dem Tagebuch ihrer Mutter.
    „Ich hörte das Wimmern und die unterdrückten Schreie und musste hinterher die blutigen Handtücher und Binden wegräumen, die Küretten und das Spekulum saubermachen. Die Arzthelferin konnte er ja am Montag nicht gut damit beauftragen. Ich vermute mal, er hat es wegen des Geldes gemacht – nicht weil er philanthropisch veranlagt war und den Frauen helfen wollte. Er hat es sich immer gut bezahlen lassen. Ich habe mich so geekelt. Ich war ja erst vierzehn, als er anfing, die Operationen durchzuführen.“
    „Hast du Achim davon erzählt?“, bohrte Anne nach.
    „Nein, selbst Achim kennt die Geschichte nicht. Aber instinktiv ahnt er, dass da was mit meiner Jugend und meinem Zuhause nicht stimmt. Aber darüber gesprochen haben wir die ganzen Jahre nicht. Er geht lieber in seinen Bastelkeller.“
    Bei dir und mir herrscht eine Kultur des Verschweigens und Vertuschens, genauso wie bei Magda. Unsere Familie hat das wirklich perfektioniert, dachte Anne.
    „Wolltest du deshalb, dass unser Haus verkauft wird? Weil auf einmal alles hochkommt, die verdrängte Erinnerung zu schmerzhaft ist? Weil ein Mensch, den du dachtest zu lieben, sich als Schwein erwiesen hat?“, fragte Anne und gleichzeitig erkannte sie: Ich schildere ja meine eigenen Empfindungen!
    „Teils, teils, ich bekomme dort Panikanfälle, mir geht es da wie Mama. Natürlich hätten Achim und ich das Geld vom Verkauf des Hauses gebraucht. Aber jetzt ist sowieso alles egal!“ Sieglinde zog eine Wolldecke über sich. „Mich friert.“
    „Nichts ist egal, soll ich dich jetzt ins Krankenhaus fahren?“, erkundigte Anne sich.
    „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen“, entgegnete Sieglinde. „Achim fährt mich nachher in die Notaufnahme! Oder besser morgen zum Hausarzt.“
    „Sicher?“ Anne bezweifelte die Aussage ihrer Schwester. Aber zwingen konnte sie Sieglinde nicht, sich von ihr helfen zu lassen.
     
    Inzwischen war es Abend geworden. Wenn das Wetter nicht bald besser wird, bekomme ich noch den Mai-Blues, dachte Anne.
    |205| Sie hatte ihre Schwester nicht überreden können, sich von ihr ins Krankenhaus fahren zu lassen. Aber Sieglinde versprach ihr, gleich morgen ihren Hausarzt aufzusuchen.
    Achim tauchte nicht wieder aus dem Keller auf, um sie zu verabschieden. Auch gut, dachte Anne.
    Sie fuhr mit schlechten Gewissen wieder nach Stuttgart. Toller Sonntag! Ihr graute schon vor einer erneuten Aussprache mit ihrer Mutter. Hörte das denn nie auf?
     
    Am Montag hatte sich das Wetter beruhigt, der letzte Regen war in der Nacht abgezogen, aber schon wieder herrschte ein fast subtropisches Klima.
    Nachdem die Autopsie der männlichen Leiche aus Wilma Fioris Frühbeet abgeschlossen war, betrat Anne noch einmal das Katharinenhospital.
    „Unverändert“, meinte Schwester Margret, die Anne nach dem Zustand von Natalie fragte.
    „Was geschieht jetzt mit ihr?“, wollte Anne wissen.
    „Wenn alle therapeutischen Maßnahmen ausgeschöpft sind, wird wohl ein Pflegeheim infrage kommen. Ich vermute mal, dass die Angehörige das Mädchen nicht aufnehmen kann. Es ist Vollwaise und noch nicht volljährig. An Frau Schüles Stelle wird wohl das Jugendamt die Entscheidung übernehmen.“ Die Schwester richtete Natalie auf und schob ihr einen Kissenkeil in den Rücken.
    „Dass die Tante sie aufnimmt, glaube ich auch nicht! Ist auch vielleicht besser so“, sagte Anne und beobachtete Natalie, die inzwischen ohne Sauerstoffschläuche selbstständig atmete. Aber ihre offenen Augen blickten ins Leere. Aus dem Mund des Mädchens tropfte Speichel, die Hände lagen gekrümmt wie Löffel auf der Bettdecke.
    „Armes Ding.“ Anne seufzte.
     
    Als Anne in der Thomas-Mann-Straße klingelte, sah sie den Sprinter einer
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