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Blutige Spuren

Blutige Spuren

Titel: Blutige Spuren
Autoren: Jörg Liemann
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Armen stellte er sich vor das Bücherregal: Neurologie und Psychiatrie, 7. Auflage. Bräutigams Kleine Psychiatrie. Wolffs Bisexualität. Beauvoirs Das andere Geschlecht. Eine Frau mit rauchiger Stimme ruft mich nachts an, rekapitulierte Sternenberg, und sagt, dass sie mich liebt.
    Sie bastelt und kifft und bumst und – liebt mich. Groddeck, Freud, Reik, Fromm, Adler, Durkheim, Améry, Kübler-Ross. Er legte sich auf die Liege, schob sich ein Kissen unter den Rücken und starrte die schwach beleuchtete Decke an. Im Geiste redete er laut mit sich selbst: Sag mal, Hauptkommissar Kai Sternenberg, wie geht’s dir eigentlich?
    Seine Gedanken liefen durcheinander. Typisch für die Nacht. Alles scheint sich so deutlich und klar abzuzeichnen. Und doch ist die Nacht nicht gut, um die Dinge zu ordnen. Er stand schnell auf, begab sich zum Schreibtisch und notierte in der Kladde das Kürzel » A&T « . Er hatte es in seinem Leben schon oft geschrieben. Es sah wie ein Graffiti aus, das nur er selbst entwirren konnte, und es sollte ihn daran erinnern, zwei wichtige Telefonate zu führen.
    Anja hatte sich aufs Mailen verlegt und telefonierte nur noch selten. Zuletzt berichtete sie von einem netten Inder – und meinte damit kein Restaurant, sondern einen jungen Mann, den sie an der Uni in Hamburg getroffen hatte. Sternenberg hatte beschlossen, für derartige Abenteuer seiner Tochter kein Verständnis aufzubringen. Egal, ob es ein Inder war oder irgendein anderer Mann. Die Männer sollten gefälligst die Finger von seiner kleinen Tochter lassen. Sie hatte ihr Abitur schließlich nicht gemacht, um sich mit Kerlen abzugeben, sondern um etwas zu werden. Ohnehin schwer genug, im Bereich Industriedesign – ihrer neuesten Masche – beruflich etwas Passendes zu finden. In seiner Antwortmail hatte er ihr also das strikte Verbot erteilt, sich auf Männer einzulassen, und damit gedroht, jeden zusammenzuschlagen, der sie schlecht behandelte. Sie hatte mit ihren üblichen empörten Spottmails geantwortet und sich mit tausend Küssen verabschiedet.
    Tatjana hatte Männergeschichten immer abgelehnt – ihm gegenüber jedenfalls. Sie war die Ernsthaftere der beiden. Wenn auch nicht die Erfolgreichere. Sie schickte keine E-Mails. In den Anrufen erklärte sie ihm, das Literaturstudium liefe im Großen und Ganzen tadellos. Aber er hörte auch etwas Trauriges in ihrer Stimme, das sie nicht zugab. Er glaubte, dass sie sich einsam fühlte in Coimbra. So gut war ihr Portugiesisch noch nicht, dass sie sich da völlig ohne Probleme einleben könnte. Man hatte ihr angeboten, in eine » Republik « einzuziehen, in eine der vielen linken Wohngemeinschaften, in denen extreme politische Ansichten vertreten wurden. Dennoch ging aus solchen Gemeinschaften eine Menge von Staatsanwälten und Politikern hervor – eine keinesfalls linke Elite des Staates. Tatjana hatte trotzdem doppelte Vorbehalte gehabt. Zum einen wollte sie sich die Karriere nicht durch eine kommunistische Vergangenheit verbauen. Das war vielleicht eine aus deutschen Gymnasien mitgenommene Angst, in Portugal konnte man als ehemaliger Maoist Ministerpräsident werden – und sogar EU -Kommissionspräsident.
    Zum anderen wehrte sie sich überhaupt dagegen, in eine WG zu ziehen. Die Nähe zu ihrer Zwillingsschwester Anja habe ihr diesen Bedarf ausgetrieben, erklärte sie kategorisch. Lieber arbeitete sie nebenbei in der Fischhalle des Mercado Don Pedro V., um sich das Geld für ein eigenes Zimmer zu verdienen. Sternenberg fürchtete, Tatjana könnte sich jahrelang in die Lusitanistik vergraben, um dann schließlich ohne Abschluss – aber nach Fisch stinkend – zurückzukommen oder womöglich gleich nach Brasilien auszuwandern.
    Die beiden Flöhe musste er unbedingt anrufen. Bloß nicht jetzt sofort. Mitten in der Nacht. Ich könnte ihnen eine SMS schicken, dachte er. Er nahm das Handy und suchte nach Anjas Eintrag im Telefonbuch. Dabei fiel ihm die Anzeige am Display ins Auge, dass eine neue SMS eingegangen war, und zwar mehrmals.
    Sofort musste er daran denken, dass ihm Tarek, einer seiner Mitarbeiter, einmal nachts eine SMS geschickt hatte. Sie lautete: » RUF MICH AN ! « Nachdem er die Nachricht fünfmal hintereinander bekommen hatte, hatte er ihn schließlich wirklich angerufen – Tarek hatte sich daraufhin beinahe bewusstlos gelacht, und mit ihm ein ganzer Chor im Hintergrund.
    Er bemühte sich, nicht versehentlich auf die Anruftaste zu tippen, wie ihm das manchmal passierte. Er hasste
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